COVID-19: 3 Fragen an Prof. Dr. Gerd Glaeske

Der Arbeitsalltag vieler im Gesundheitswesen Tätiger wird derzeit durch die Corona-Krise bestimmt. Wir zeigen, wie sich der Berufsalltag verändert hat, mit welchen Schwierigkeiten die verschiedenen Berufsgruppen zu kämpfen haben und wie sich alle Tag für Tag dafür einsetzen, eine optimale Patientenversorgung auch in diesen schwierigen Zeiten zu gewährleisten.
Die Lockerungen der Corona-Maßnahmen zum 20. April sind umstritten. Mehrere Bundesländer haben bereits Sonderwege angekündigt. In einem Interview hat uns Prof. Glaeske seine Sicht zu den Änderungen mitgeteilt.

Konstruktive Kritik der bisherigen Maßnahmen

Prof. Glaeske ist einer der sechs Autoren eines Thesenpapiers zur Pandemie durch SARS-CoV-2/COVID-19 (PDF). Darin soll ausdrücklich keine Kritik an den handelnden Personen geübt werden. Die Autoren formulieren jedoch drei Thesen, die helfen sollen, den bisherigen Kurs zu überdenken.

Sie tragen die folgenden Überschriften:

  • Datenbasis verbessern
  • Prävention gezielt weiterentwickeln
  • Bürgerrechte wahren

Im Interview mit Peter Ditzel (Herausgeber der Deutschen Apotheker Zeitung) hat Prof. Glaeske seinen Standpunkt bereits dargelegt. Aber wie steht er zu den Änderungen des Lockdowns am 20. April?

Interview mit Prof. Dr. Gerd Glaeske

Redaktion: Welche der bisherigen Maßnahmen sehen Sie kritisch und warum?

Glaeske: Der „Lockdown“ mag in der anfangs unübersichtlichen Situation der Covid-19-Pandemie das richtige Mittel gewesen sein. Dennoch wurde aus unserer Sicht zu wenig die Gefahr problematisiert, dass die soziale Ungleichheit und andere gesellschaftliche Konflikte verstärkt werden können, je länger er andauert. Ganz grundlegend sind wir der Meinung, dass demokratische Grundsätze und Bürgerrechte nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden dürfen. Daher war die politische Orientierung an vor allem virologischen Ratschlägen aus unserer Sicht zu eng gefasst. Die Mitarbeit von Experten aus weiteren Bereichen hätten dem Eindruck einer sehr engen Expertokratie entgegengewirkt und den Entscheidungen der Politik in einer Demokratie gut getan:

  • Epidemiologie
  • Soziologie
  • Gesundheitsökonomie
  • Pflegewissenschaften
  • Intensivmedizin
  • Infektiologie
  • Public Health

Zudem war und ist die Zahlenbasis und deren Kommunikation nach wie vor unbefriedigend, z.B. vor allem im Hinblick auf die Infektionszahlen und die Todesfälle, die doch die politischen Entscheidungen bestimmen. Wir glauben, dass die Wirksamkeit von Social Distancing beschränkt ist, denn am häufigsten verbreitet sich SARS-CoV-2 derzeit in Pflege- bzw. Betreuungseinrichtungen, aber auch in manchen Krankenhäusern. Insgesamt befürworten wir daher, auf Zielgruppen-orientierte Maßnahmen umzuschwenken. Diese sollten sich auf die vier Risikogruppen beziehen:

  • Hohes Alter
  • Multimorbidität
  • Institutioneller Kontakt
  • Zugehörigkeit zu einem lokalen Cluster, also auf Regionen, die nachweislich besonders betroffen sind wie z.B. die Region Heinsberg.

Zu diesen Risikogruppen gehören ohne Zweifel auch Beschäftigte im Gesundheitssystem, die immer wieder nahen Kontakt mit möglicherweise infizierten Menschen haben, also Ärzt*innen, Apotheker*innen, das gesamte Personal in Praxen, Krankenhäusern, Apotheken und anderen Einrichtungen sowie das Pflegepersonal, vor allem in den Alten- und Pflegeheimen.

Redaktion: Welche Lockerungen begrüßen Sie?

Glaeske: Ich begrüße es sehr, dass gesellschaftliches Leben und soziales Miteinander langsam wieder möglich gemacht werden soll. Dazu gehören z.B. die Öffnung von Einzelhandelsgeschäften wie Buchläden („Arzneimittel“ für den Geist) oder andere in der Größenordnung bis 800 qm. Auch Betriebe bereiten sich auf differenzierte Möglichkeiten vor, die Arbeit wieder beginnen zu können, Friseursalons können ab dem 4. Mai wieder öffnen. Vor allem geht es aber auch um die schrittweise Öffnung von Schulen, hier soll die Kultusministerkonferenz bis zum 29.4. ein Konzept erarbeiten, das insbesondere die sozial schwächeren Schüler*innen wieder rasch integrieren kann, weil die insbesondere unter der Quarantäne wegen der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten untereinander und mit dem Lehrpersonal zu leiden hatten.  In diesem Zusammenhang wird es auch erweiterte Angebote der Notbetreuung von Kindern für solche Eltern und Familien geben, die nun wieder zur Arbeit gehen können. Das alles hat eine sicherlich wirksame soziale und psychische Komponente, weil die Quarantäne bei vielen Menschen zu sozialer Einsamkeit geführt hat, was auch Belastungen und Krankheitssymptome auslösen kann.

Redaktion: Welche Lockerungen sehen Sie kritisch bzw. welche Maßnahmen hätten Sie sich gewünscht?

Glaeske: Ich sehe keine der getroffenen Lockerungen kritisch, ich hätte mir aber auch vorstellen können, dass größere Geschäfte wie Warenhäuser, kulturelle Orte, Kirchen oder auch bestimmte Ausflugsziele (z.B. Tierparks) unter bestimmten Bedingungen wie beschränkte Besucherkapazitäten oder auch Restaurants als Orte des sozialen Lebens wieder hätten öffnen können. Innen hätte man Tische oder Sitzgelegenheiten im Abstand von zwei Metern vorsehen können, im offenen Gelände an den Abstand zueinander appellieren können, wie dies auch sonst im öffentlichen Raum geregelt ist. Mir fehlen aber bestimmte Maßnahmen und Überlegungen. Im Vorspann des „Lockerungspapiers“ heißt es z.B. „Wir müssen uns alle bewusst machen, dass wir die Epidemie durch die Verlangsamung der Infektionsketten der letzten Wochen nicht bewältigt haben, sie dauert an. Deshalb können wir nicht zum gewohnten Leben der Zeit vor der Epidemie zurückkehren …“. In diesem Zusammenhang gibt es keinerlei Hinweise zu den ökonomischen Folgen, auch bezüglich der möglichen Schwächung von sozialen Sicherheitssystemen. Gleichzeitig wird aber auf technologischen Instrumenten (z.B. Contact Tracking) als erfolgversprechende Maßnahme beharrt, obwohl hier eine Einschränkung der Privatsphäre in zumindest kritischem Ausmaß drohen kann, gerade hinsichtlich der besonderen Schutzbedürftigkeit der Gesundheitsdaten. Auch zur Verstärkung der Ungleichheit findet man im ganzen Papier keine Erwähnung. Dies gilt erst recht für die Frage der Alternativlosigkeit der verabschiedeten oder verlängerten Maßnahmen. Wirklich wissenschaftlich abgeleitete und begründbare Überlegungen bieten zumeist auch Alternativen an.

Überhaupt kein Verständnis habe ich auch außerhalb des Lockerungspapiers für die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), die Ausnahmeregelung zur telefonischen Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit ab dem 21.4. zu beenden. Die Infektionsgefahr in den Praxen wird dadurch erheblich und unnötig wieder ansteigen. Interne Absprachen hatte eine Verlängerung bis zum 23.6. vorgesehen. Offenbar hat bei der Entscheidung des G-BA der große Druck der Arbeitgeberseite eine entscheidende Rolle gespielt. Dies sind dann die egoistischen Interessen einzelner Gruppen, die eine übereilte Lockerung an dieser Stelle nach sich ziehen.

Redaktion: Vielen Dank für das Gespräch!

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