Die Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D reduziert die Krebsmortalität um 13 % – so lautet das Ergebnis bisheriger Metaanalysen aus randomisierten kontrollierten Studien. Aber wie sinnvoll ist eine generelle Vitamin D-Anreicherung nach dem Gießkannenprinzip tatsächlich?
Rechtliche Grundlagen in der EU und in Deutschland
In einigen europäischen Ländern ist die Anreicherung von Nahrungsmitteln mit Vitamin D bereits gängige Praxis. Dagegen werden in anderen überhaupt keine oder nur wenige Nahrungsmittel mit zusätzlichem Vitamin D versehen, so zum Beispiel in Deutschland. Hierzulande ist dieses Vorgehen nur für Margarine und Streichfette erlaubt. Zusätzlich dürfen Hersteller den Vitamin D-Gehalt in Lebensmitteln wie Milch, Brot, Bäckerhefe und Speisepilze durch UV-Bestrahlung erhöhen. Für alle anderen Produkte ist eine behördliche Zulassung über eine Allgemeinverfügung oder Ausnahmegenehmigung erforderlich. Grundlage hierfür ist die Novel-Food-Verordnung.
Vitamin D für alle?
Die Anreicherung von Nahrungsmitteln mit Vitamin D könnte zu einem vergleichbaren Anstieg der Vitamin D-Spiegel wie mit einer oralen Substitution durch Arzneimittel und zu einer verminderten Krebsmortalität führen, propagieren die Autoren der vorliegenden Studie. Was ist dran an der Hypothese?
Für die Metaanalyse zogen die Autoren wissenschaftliche Literatur aus 34 europäischen Ländern heran. Auch länderspezifische Krebstodstatistiken von Eurostat aus dem Jahr 2017, Informationen über die Lebenserwartung und die länderspezifische Handhabung der Anreicherung mit Vitamin D in Lebensmitteln wurden berücksichtigt. Aus all diesen Daten schätzen die Autoren die Anzahl
- bereits verhinderter Krebstodesfälle in Ländern, in denen Nahrungsmittel bereits heute zusätzlich Vitamin D enthalten sowie
- in Zukunft möglicherweise zu verhindernder Krebstodesfälle und der verlorenen Lebensjahre, wenn alle Länder weltweit Lebensmittel mit Vitamin D versehen würden.
Vitamin D-Anreicherung senkt Krebsmortalität, aber …
Die Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D könnte pro Jahr schätzungsweise 27 000 Krebstodesfälle in allen Ländern der EU verhindern. Wenn alle Länder weltweit ihre Lebensmittel adäquat mit Vitamin D anreichern würden, könnten Berechnungen der Autoren zufolge knapp 130 000 zusätzliche Krebstodesfälle, davon 113 000 in der EU, verhindert werden. Diese Zahlen entsprächen 1,2 Millionen gewonnenen Lebensjahren (1 Mio. in der EU) – oder anders gesagt: Etwa 9 % der Krebstodesfälle (10 % in der EU) wären durch diese Vorgehensweise vermeidbar. Das klingt erst einmal gut – oder?
Ein Kommentar
Die Autoren schlussfolgern in der Studie, dass die systematische Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D zu einer beträchtlichen Reduktion der Krebsmortalität in Europa führen könnte. Das ist grundsätzlich ein interessanter Ansatz, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des weit verbreiteten Vitamin D-Mangels in der Bevölkerung.
Die „zwangsweise“ Anreicherung von Lebensmitteln nach dem Gießkannenprinzip könnte zu Überdosierungen und zur Akkumulation des fettlöslichen Vitamins – das genau genommen zu den Hormonen zählt – vor allem in der Niere führen. Möglicherweise käme es dadurch zu einem Anstieg von (behandlungsbedürftigen) Nierensteinen in der Bevölkerung. Besonders gefährdet sind Kinder. Insgesamt ist diese Vorgehensweise sehr kritisch zu sehen, zumal Menschen recht empfindlich darauf reagieren können, wenn ihnen vorgeschrieben wird, was sie essen sollen. Hinzu kämen Ungenauigkeiten, wie viel von welchen Lebensmitteln gegessen werden müsste, um einen potenziellen Vitamin-D-Mangel auszugleichen.
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) empfiehlt eine Lebensmittelanreicherung mit Vitamin D allenfalls für Milch- und Getreideprodukte, vertritt aber insgesamt folgenden eindeutigen Standpunkt:
Eine generelle Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D ist nicht empfehlenswert.“
Das BfR hat ein Konzept entwickelt, in dem es Richtwerte für Höchstmengen für den Zusatz von Vitamin D in Nahrungsmitteln vorschlägt. Ziel ist die Begrenzung der maximalen Gesamtaufnahme von Vitamin D über alle Altersgruppen hinweg in einem sinnvollen, gesunden Ausmaß.
Eine weitere Limitation der Studie ist, dass die Autoren „Krebs“ nicht weiter differenziert haben. Tumorerkrankungen sind zu komplex (Pathogenese, Risikofaktoren, Prognose, Morbiditätsrisiko etc.), um sie einfach unter dem Begriff „Krebs“ zu vereinen. Zusammenfassend wirft die Studie mehr Fragen auf als sie beantwortet und lässt die Leser eher mit einem Fragezeichen zurück.
Zum Weiterlesen
Wer sich fragt, wie es – trotz eindeutiger Rechtslage – sein kann, dass sich zugesetztes Vitamin D in immer mehr Nahrungsmitteln findet, der sollte einen Blick in den Marktcheck der Verbraucherzentralen werfen, der die unerlaubte Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D thematisiert.
Quelle
Niedermaier T, et al. Vitamin D food fortification in European countries: the underused potential to prevent cancer deaths. Eur J Epidemiol 2022; doi: 10.1007/s10654-022-00867-4.