Arzneimittel gegen seltene Leiden müssen bei Markteintritt in Deutschland nicht das reguläre Nutzenbewertungsverfahren durchlaufen. Dieses Vorgehen soll helfen, die Orphan-Drug-Entwicklung zu fördern. Doch ist es gerechtfertigt, ihnen einen fiktiven Zusatznutzen zu bescheinigen? Eine aktuelle Auswertung von Mitarbeitern des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) lässt an dem Vorgehen zweifeln.
Bevorzugung bei der Nutzenbewertung …
Erkrankungen mit einer Prävalenz von ≤ 5 pro 10.000 Einwohner gelten in der EU als seltene Leiden. Um pharmazeutischen Unternehmen Anreize zu schaffen, trotz marktwirtschaftlicher Risiken Arzneimittel für seltene Leiden zu entwickeln, haben Orphan-Drug-Hersteller in der Regel zunächst 10 Jahre Marktexklusivrecht. Außerdem sind Orphan-Drugs vom regulären Nutzenbewertungsverfahren nach § 35a SGB V befreit: Im Gegensatz zu regulären Arzneimitteln wird der Zusatznutzen, unabhängig von der tatsächlichen Datenlage, bereits mit der Zulassung in der EU und dem darauffolgenden Marktzugang als belegt angenommen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) quantifiziert lediglich den Zusatznutzen. Ist das nicht möglich, weil die Datenlage keine Quantifizierung erlaubt, wird ein „nicht quantifizierbarer“ Zusatznutzen attestiert (gelegentlich als „fiktiver“ Zusatznutzen bezeichnet).
Überschreitet das Arzneimittel einen Jahresumsatz von 50 Millionen Euro, folgt eine reguläre Nutzenbewertung durch IQWiG und G-BA. Für alle Orphan-Drugs, die seit Inkrafttreten der AMNOG-Regelung wegen Überschreitung der Umsatzschwelle nachträglich ein reguläres Nutzenbewertungsverfahren durchlaufen haben, haben Mitarbeiter vom IQWiG nun ausgewertet, ob der fiktive Zusatznutzen bei der regulären Nutzenbewertung noch Bestand hatte. Das Ergebnis ist ernüchternd: Bei mehr als der Hälfte der Verfahren wurde der Zusatznutzen im Nachhinein nicht bestätigt.
Für die Analyse wurden 41 Orphan-Drug-Bewertungen eingeschlossen, für die seit 2011 sowohl eine Orphan-Bewertung als auch eine nachfolgende reguläre Nutzenbewertung erfolgt war. Sie verteilen sich auf 20 verschiedene Wirkstoffe, da einige der Arzneimittel für mehrere Anwendungsgebiete zugelassen wurden. Der Zeitraum zwischen der eingeschränkten und der regulären Nutzenbewertung lag im Mittel bei 3 Jahren (mindestens 1 Jahr und bis zu 9 Jahre).
- Bei 22 der 41 Bewertungen konnte in der regulären Nutzenbewertung kein Zusatznutzen („nicht belegt“) festgestellt werden.
- Zum Zeitpunkt des Marktzugangs hatte sich bei 21 Bewertungen ein „nicht quantifizierbarer“ Zusatznutzen ergeben.
- Bei 11 der 41 Bewertungen war das Ausmaß des Zusatznutzens bei der ersten, eingeschränkten Bewertung und der regulären Nutzenbewertung identisch. Bei den anderen 30 wich das Ausmaß des Zusatznutzens zwischen den beiden Bewertungszeitpunkten voneinander ab.
… mit Folgen für die Qualität der Patientenversorgung …
Der Leiter des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung, Thomas Kaiser, monierte in einer Pressemitteilung des IQWiG:
„Patientinnen und Patienten haben […] viel Hoffnung in ein neues Arzneimittel gesetzt, für das erst Jahre später klar wird, dass es gar keinen Nachweis einer Überlegenheit gegenüber den vorhandenen Therapieoptionen gibt.“
Das Vorgehen verhindere, zwischen Orphan-Drugs mit und ohne echten Fortschritt für die Patientenversorgung unterscheiden zu können. Überschreitet ein Orphan-Drug nicht die Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro, wird die Einstufung des Zusatznutzens zudem nie korrigiert.
… und der Arzneimittelausgaben der Krankenkassen
Dem Leiter des IQWiG, Jürgen Windeler, zufolge sei es an der Zeit, das Privileg des Zusatznutzens für Orphan-Drugs abzuschaffen. Er plädiert dafür, dass auch Arzneimittel gegen seltene Leiden bei Markteintritt eine reguläre Nutzenbewertung gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie durch IQWiG und G-BA durchlaufen sollten.
Krankenkassen würde das sicher freuen: Orphan-Drugs für sehr spezielle Krebsarten sind laut „Arzneimittel-Kompass 2021“ des Wissenschaftlichen Instituts der AOK wesentliche Kostentreiber in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Windeler plädiert daher für eine sorgfältige Differenzierung in Arzneimittel mit „echtem Fortschritt für die Patientenversorgung“ und solche ohne Zusatznutzen. Die Evidenzbasis zeige, dass randomisierte kontrollierte Studien auch zu Orphan-Drugs möglich seien, heißt es im Bericht des IQWiG. Dazu müsste man sich bei der Planung der Studien jedoch nicht nur an Zulassungskriterien orientieren. Vielmehr sollte man auch versorgungsrelevante Fragestellungen wie den Vergleich mit vorhandenen Therapieoptionen berücksichtigen.
Kommentar
Nach elf Jahren AMNOG-Verfahren wurden und werden an der ein oder anderen Stelle Verbesserungsmöglichkeiten deutlich. Und eine Differenzierung nach Arzneimitteln mit und ohne „echten“ Zusatznutzen ist auch für Orphan-Drugs wünschenswert – insbesondere der Vergleich mit bestehenden Therapieoptionen ist wichtig. Sicher ist es in einigen Fällen machbar, genügend Patienten für randomisierte, kontrollierte Studien zusammenzubekommen. Doch schon jetzt ist es herausfordernd, bei der Studienplanung sowohl die Regularien für den Zulassungsprozess als auch für nationale Regularien wie etwa das AMNOG-Verfahren zu berücksichtigen.
Dass „Zusatznutzen nicht belegt“ nicht notwendigerweise bedeutet, dass ein Orphan-Drug schlechter bzw. nicht besser wirkt als bestehende Optionen, zeigt übrigens das Beispiel Onasemnogen Abeparvovec (Zolgensma®) bei spinaler Muskelatrophie. Hier ließ sich das Ausmaß des Zusatznutzens aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit der Patienten in den Studien zu Nusinersen und Onasemnogen Abeparvovec nicht bestimmen – was allerdings nicht an den Studien zu Onasemnogen Abeparvovec lag, wie der G-BA 2021 in einer Pressemitteilung klarstellte.
Quellen
- Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. [GA21-01] Evidenz zu Orphan Drugs. (PDF)
- Pressemitteilung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen vom 12. Januar 2022. Orphan Drugs: Privileg des „fiktiven“ Zusatznutzens nicht gerechtfertigt