Medikamentensicherheit bei Kindernotfällen erhöhen

Individuelle Dosierungen, altersgruppenspezifische Besonderheiten, Off-Label-Use – Kinder sind durch Medikamentenfehler besonders gefährdet, vor allem wenn es schnell gehen muss. Eine interdisziplinäre S2k-Leitlinie unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) soll bei Notfällen mehr Sicherheit geben.

Kinder durch Arzneimittelfehler besonders gefährdet

Patientenindividuelle Unterschiede in der Medikation stellen Behandler schon bei Erwachsenen vor Herausforderungen. Bei Kindern ist die Patientenvielfalt um ein Vielfaches größer: Vom Neugeborenen bis hin zum großen Jugendlichen kann man nicht auf eine vertraute „typische“ Dosis setzen.

Die S2k-Leitlinie zur „Medikamentensicherheit bei Kindernotfällen“ soll Pädiater mit einfach umsetzbaren Empfehlungen unterstützen, um die Arzneimittelsicherheit bei Kindernotfällen zu erhöhen. Sie richtet sich an alle Versorger von klinischen oder prähospitalen Notfallsituationen.

Schlüsselparameter Gewicht

In pädiatrischen Notfallsituationen wird ausnahmslos anhand des Gewichts dosiert. Allerdings wird der Gewichtsermittlung vor allem im prähospitalen Alltag nach wie vor nicht genügend Bedeutung beigemessen. Damit ist die Therapie, vor allem bei hochpotenten Arzneimitteln, mit dem Risiko einer gefährlichen Über- oder Unterdosierung behaftet. Neben der Angabe durch die Eltern sollen längenbezogene Methoden zur Gewichtsschätzung verwendet werden.

Grundsätzlicher Verzicht auf Off-Label-Use gefährdet Kinder

In der Leitlinie wurde eine klare Positionierung zum Off-Label-Use in der pädiatrischen Notfallmedizin formuliert:

„Ein Off-Label-Use ist nicht unsachgemäß, illegal oder kontraindiziert, sondern kann die bestmögliche Therapie darstellen.“

Damit gibt es erstmalig im deutschsprachigen Raum ein derart klares Statement. In der Leitlinie findet sich zudem eine Tabelle von Off-Label-Medikamenten für den Kindernotfall mit Dosierungsempfehlungen inklusive der zugrundeliegenden Referenzen.

„Der Blick in die Dosierungstabelle sollte so selbstverständlich sein wie die Nutzung einer Pilotencheckliste im Flugverkehr.“ (Priv.-Doz. Dr. med. Jost Kaufmann)

5-R-Regel

Wird das gesamte Team eingebunden und gibt es feste Routinen, erhöht das die Vigilanz. Die „5-R-Regel“ unterstützt dabei: Vor jeder Arzneimittelgabe soll von mindestens 2 Personen geprüft werden, dass es sich um

  • das richtige Medikament,
  • in der richtigen Dosis,
  • zum richtigen Zeitpunkt,
  • mit dem richtigen Verabreichungsweg und
  • für den richtigen Patienten handelt.

Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick

  • Ein Medikament, zu welchem dem Anwender hinreichende pharmakologische Kenntnis für die Notfallindikation fehlt, soll nicht verabreicht werden („primum non nocere“).
  • Vor jeder Gabe an Medikamenten soll im Vieraugenprinzip überprüft werden, dass es sich um das richtige Medikament, in der richtigen Dosis, zum richtigen Zeitpunkt, mit dem richtigen Verabreichungsweg und für den richtigen Patienten handelt (5-R-Regel).
  • Vor jeder Therapie soll die Indikation hinterfragt und geprüft werden.
  • Eine „Übertherapie“ soll vermieden werden (so wenig wie möglich und so viel wie nötig).
  • Die Verordnung von Notfallmedikamenten soll unter Kenntnis und Verwendung pädiatrisch-pharmakologischer Referenzen beziehungsweise kognitiver Hilfsmittel erfolgen.
  • Vor jeder medikamentösen Therapie soll das Gewicht des Kindes ermittelt und dokumentiert werden.
  • Wenn kein genanntes Gewicht verfügbar ist, soll eine längenbezogene Gewichtsschätzung durchgeführt werden.
  • Die Gaben von Arzneimitteln, die eine geringe therapeutische Breite aufweisen oder bei Fehldosierung großen Schaden anrichten können (z.B. Adrenalin, Analgetika) sollen NICHT ohne vorherige Überprüfung durch ein unterstützendes System (z.B. Tabelle, Lineale) erfolgen.
  • Längenbezogene Systeme zur Gewichtsschätzung mit Dosisempfehlung sollten v.a. prähospital bevorzugt eingesetzt werden.
  • Mündliche Verordnungen sollen eine klare Struktur haben, eindeutig und vollständig sein sowie schnellstmöglich dokumentiert werden; wenn immer möglich sollen Verordnungen sofort schriftlich erfolgen.
  • Jede Verordnung soll durch alle Beteiligten wiederholt und bestätigt werden.
  • Medikamente sollen an einem eindeutigen und bekannten Ort gelagert werden.
  • Wenn möglich, sollen Medikamente mit Gefährdungspotential separiert werden, um ein bewusstes „danach Greifen“ zu erzwingen.
  • Jede aufgezogene Spritze soll vorzugsweise mit einem Etikett nach ISO 26852 längs so beklebt werden, dass die Skalierung weiter lesbar bleibt.
  • Die nicht-technischen Fähigkeiten und die Inhalte von Versorgungsstandards sollen trainiert werden (z.B. Simulationstraining).

Quellen

Die im März 2021 veröffentlichte Leitlinie ist auf der AWMF-Webseite abrufbar. Dort findet sich auch eine komprimierte Kurzfassung: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/027-071.html

Pressemitteilung der DGKJ vom 19. April 2021: https://www.dgkj.de/detail/post/medikamentensicherheit-bei-kindernotfaellen