Unstatistik des Monats: Wie hoch ist die Corona-Übersterblichkeit?

Monatsanfang – Zeit für eine neue Unstatistik. Dieses Mal haben die Wissenschaftler des RWI eine Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO zur Übersterblichkeit im Zusammenhang mit COVID-19 auseinandergenommen. Ihre Kritik: In der Studie wird eine störanfällige Methode angewandt.

WHO-Studie mit störanfälliger Methode

Der Studie der WHO zufolge gab es in Deutschland in den Pandemiejahren 2020/2021 knapp 200.000 Todesfälle mehr als ohne Pandemie zu erwarten gewesen wäre, heißt es in der aktuellen Unstatistik. Erstaunlich sei zudem, dass Länder wie Großbritannien oder Spanien nach den Berechungen unter dem deutschen Wert liegen. Das überrascht, denn man ging hier in Deutschland davon aus, im Vergleich zu europäischen Nachbarn gut durch die Pandemie gekommen zu sein.

Die Zahlen weichen zudem deutlich von denen des Statistischen Bundesamtes ab. Hier geht man für 2020 und 2021 zusammen von einer Übersterblichkeit von etwa 70.000 Fällen in Deutschland aus. In zwei aktuellen Studien kommen die Statistiker De Nicola, Kauermann und Höhle auf nur 30.000 zusätzliche Todesfälle im gleichen Zeitraum.

Wie das sein kann, fragte sich unter anderem der Statistiker Christoph Rothe, Mannheim. Er hat die aktuelle Unstatistik des RWI Essens verfasst.

Grundsätzlich versteht man unter dem Begriff „Übersterblichkeit“ die Differenz zwischen den tatsächlich beobachteten Todesfällen und der Anzahl, die statistisch gesehen zu erwarten gewesen wäre. Wie viele Menschen tatsächlich sterben, wird in einem Land mit guter Bevölkerungsstatistik wie Deutschland recht genau erfasst. Für die Berechnung der erwarteten Todesfälle gibt es aber mehrere gängige Verfahren, die jeweils zu einer etwas anderen Übersterblichkeit führen.

Demzufolge verwendet das Statistische Bundesamt in der Regel als Erwartungswert den Median im gleichen Zeitraum der letzten vier Jahre. De Nicola, Kauermann und Höhle berücksichtigen zusätzlich zu den reinen Sterbezahlen der Vergangenheit auch die Entwicklung der Altersverteilung, denn durch das Älterwerden der Bevölkerung kommt es jedes Jahr tendenziell zu mehr Todesfällen.

Einfluss kurzfristiger Zufallsschwankungen

Die WHO hat für ihre Studie ein relativ komplexes Verfahren genutzt, um aus den Sterbefällen der Jahre 2015 bis 2019 eine Erwartung für die Jahre 2020/2021 zu berechnen. Dieses Verfahren sei sehr flexibel, habe aber einen Nachteil, so Rothe: Es werde leicht von kurzfristigen Zufallsschwankungen beeinflusst.

Und diese Zufallsschwankungen machten sich bei den deutschen Daten nun bemerkbar: 2018 hatten wir eine starke Grippewelle mit vielen Todesfällen, 2019 deutlich weniger Influenza-Todesfälle. Das Modell der WHO hat dies nun wohl fälschlich als Beginn eines deutlichen Abwärtstrends bei der Sterblichkeit gedeutet, der sich für 2020/2021 hätte fortsetzen müssen. Dem wäre natürlich auch ohne Pandemie nicht so gewesen.

Die an der Entwicklung der WHO-Methodik beteiligten Wissenschaftler haben als Reaktion auf die Kritik inzwischen neue Zahlen für Deutschland genannt: Sie liegen mit etwa 120.000 Todesfällen für 2020/2021 allerdings immer noch deutlich über den Werten anderer Studien.

Auch bei Verwendung plausiblerer Methoden sollte die Übersterblichkeit […] nicht als alleiniges Maß für einen Ländervergleich der Effektivität von Corona-Maßnahmen verwendet werden, da diese auch von vielen anderen Faktoren, wie zum Beispiel der jeweiligen Altersverteilung, beeinflusst wird.

Die vollständige Unstatistik ist auf den Seiten des RWI Essens nachzulesen.

Unstatistik des Monats

Mit der Unstatistik des Monats hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat jüngst publizierte Zahlen und deren Interpretationen. In diesem Monat hat Gastautor Christoph Rothe, Inhaber des Lehrstuhls für Statistik an der Universität Mannheim, die „Unstatistik“ verfasst.

Quelle

Unstatistik des Monats vom 31. Mai 2022, https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik/detail/who-studie-zur-corona-uebersterblichkeit-nutzt-stoeranfaellige-methode