Geschlechtsspezifische Nebenwirkungen bei Chemo- und Immuntherapien

Frauen unter Chemo- und Immuntherapien sind häufiger von Nebenwirkungen betroffen als Männer. Dabei scheint das Geschlecht allein ein unabhängiger Modulator für die Wirksamkeit und Toxizität von Arzneistoffen zu sein.

Auf das Geschlecht kommt es an

Trotz zunehmender Hinweise, dass unerwünschte Ereignisse (AE) bei Frauen unter einer Chemo- oder Immuntherapie häufiger als bei Männern auftreten, haben bisher nur wenige Studien die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei diesen Therapieformen untersucht. Am Beispiel von COVID-19 wurden aber erst vor Kurzem wieder geschlechtsspezifische Unterschiede deutlich: Männer sind einer aktuellen Studie zufolge häufiger von einer höheren Symptomlast und Mortalität betroffen als Frauen. Unter Berücksichtigung der zunehmenden individualisierten Therapie in der Ära der Präzisionsmedizin erscheint das durchaus überraschend. Das haben die Autoren der vorliegenden Studie zum Anlass genommen, systematisch den Zusammenhang zwischen auftretenden AE und dem Geschlecht unter verschiedenen Therapieformen (Chemo-, Immun- und Target-) zu evaluieren.

Studiendesign

Dazu analysierten die Autoren insgesamt 23.296 Patientendaten aus 202 klinischen Studien (SWOG Phase-II- und III-Studien) über einen Zeitraum von 30 Jahren (1989 und 2019). SWOG ist eine Organisation, die vom National Cancer Institute unterstützt wird und klinische Studien bei Krebserkrankungen bei Erwachsenen durchführt. Die Art und der Schweregrad der unerwünschten Ereignisse kategorisierten die Autoren anhand der Common Terminology Criteria for Adverse Events in 13 symptomatische und 14 objektive AE. Erstere waren an die National Cancer Institute’s Patient-Reported Outcome–Common Terminology Criteria for Adverse Events (PRO-CTCAE) angepasst und wurden von den Patienten selbst berichtet, während letztere durch die Autoren beobachtet oder gemessen werden konnten (z. B. hämatologisch vs. nichthämatologisch). Die untersuchten AE-Kategorien berücksichtigten folgende AE:

  • kardiovaskuläre
  • dermale
  • gastrointestinale
  • neurologische
  • respiratorische
  • visuelle
  • (nicht) hämatologische

Das CTCAE-Ranking (0–5) war abhängig vom Schweregrad (0 = keine Toxizität, 1–4 = leicht bis lebensbedrohlich, 5 = Tod). Dabei berücksichtigten die Autoren jedoch nur den höchsten Wert. Unbekannte AEs oder solche mit unbekanntem Schweregrad wurden nicht einbezogen, gleiches galt für seltene (<5 %-Inzidenz) oder geschlechtsspezifische AEs (z. B. gynäkologische versus urologische). Ebenfalls von der Analyse ausgeschlossen wurden Studien mit

  • ≤ 10 Teilnehmern,
  • geschlechtsspezifischen oder -dominierenden Tumorerkrankungen (z. B. Mamma-, Prostata-Ca)
  • Impfstoff-basierten Interventionen (Krebsimmuntherapie)
  • Therapiekombinationen (z. B. Chemo- und zielgerichtete Therapie)

Patientencharakteristika

Von den 23.296 Patienten waren 37,9 % Frauen (8838) und 62,1 % Männer (14.458). Davon erhielten 17.417 Patienten eine Chemo-, 2319 eine Immuntherapie und 3560 eine zielgerichtete Therapie. Erstere war vor allem zwischen 1989–1999 üblich (68,4 %), während die beiden letztgenannten zwischen 2010 und 2019 einen Anteil von 53,6 % bzw. 50,3 % hatten. Die mediane Behandlungsdauer war in beiden Gruppen ähnlich (Frauen 88 Tage, Männer 84 Tage). Zu den häufigsten Tumorerkrankungen gehörten gastrointestinale (26,1 %), respiratorische (20,5 %) und leukämische (12,1 %). Mehr als ein Drittel (34,7 %) der Teilnehmer war ≥ 65 Jahre alt und etwa ein Viertel (25,6 %) adipös. Beide Aspekte trafen vor allem auf die weibliche Population zu (66,6 % vs. 64,4 % und 27,2 % vs. 24,3 %; p≤0,001).

Erhöhtes AE-Risiko bei Frauen unter Chemotherapie

Im Studienzeitraum traten 274.688 AE auf und 64,6 % der Teilnehmer (15.051) erlitten mindestens ein schwerwiegendes AE (≥ Grad 3). Bemerkenswert ist, dass Frauen in allen Behandlungsbereichen ein höheres Risiko für schwerwiegende – insbesondere hämatologische – AE im Vergleich zu Männern aufwiesen (Odds-Ratio [OR] 1,34; 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,27–1,42; p<0,001), besonders ausgeprägt war dies bei den Immuntherapien (OR 1,49; 95%-KI 1,24–1,78; p<0,001). Im Gegensatz dazu beobachteten die Autoren bei den nichthämatologischen AE keinen signifikanten Unterschied zwischen den Geschlechtern.

Symptomatische und objektive AEs

Frauen hatten ein 30 % höheres Risiko, symptomatische (33,3 % vs. 27,9 %; OR 1,33; 95%-KI 1,26–1,41; p<0,001) und hämatologische (45,2 % vs. 39,1 %; OR 1,30; 95%-KI 1,23–1,37; p<0,001) AE zu erleiden im Vergleich zu Männern. Die Wahrscheinlichkeit für objektive, nichthämatologische AEs war jedoch ähnlich zwischen Frauen und Männern (30,9 % vs. 29,0 %; OR 1,08; 95 %-KI 1,02–1,14; p=0,01), wobei Patientinnen unter Immuntherapie eher AE erfuhren (33,7 % vs. 25,4 %; OR 1,66; 95%-KI 1,37–2,01; p<0,001) – insbesondere, wenn sie Checkpoint-Inhibitoren erhielten (n = 877; 19,6 % vs. 13,0 %; OR 1,54; 95%-KI 1,05–2,26; p=0,03).

AE-Schweregrad nach Geschlecht

Frauen unter Chemotherapie hatten ein statistisch signifikant erhöhtes Risiko für symptomatische dermale (Grad ≥ 1–3) und orale AEs (Grad ≥ 1–4). Unabhängig von der eingesetzten Therapieform war auch die Wahrscheinlichkeit für symptomatische gastrointestinale AE (Grad ≥ 1–3) bei Frauen signifikant höher. Patientinnen mit einer Chemo- und Immuntherapie hatten ein erhöhtes Risiko für Schlafstörungen. Diesen Aspekt fanden die Autoren besonders interessant. Bei den objektiven AE wiesen Frauen ein erhöhtes Risiko für hämatologische und kardiovaskuläre AE auf, wenn sie eine Chemo- (Grad ≥ 1–4), Immun- (Grad ≥ 2–3) oder zielgerichtete Therapie (Grad ≥ 2) erhielten. Zusammenfassend hatten Frauen in allen 27 symptomatischen und objektiven AE-Kategorien ein statistisch signifikant erhöhtes Risiko für eine spezifische AE-Kategorie (p<0,001).

Fazit

Die Ergebnisse verdeutlichen eindrücklich, dass zwischen Frauen und Männern ausgeprägte geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich des AE-Risikos bestehen. Besonders deutlich wurde diese Differenz bei Patientinnen mit einer Immuntherapie. Vor allem von symptomatischen hämatologischen AE war das weibliche Geschlecht deutlich häufiger betroffen. Diese Differenzen sind multifaktoriell und basieren vermutlich auf Unterschieden in der Pharmakokinetik und -dynamik oder auch der Therapieadhärenz. Höchstwahrscheinlich spielen aber genetische Polymorphismen (poor, intermediate, rapid, ultra rapid metabolizer) eine maßgebliche Rolle, da sie den Arzneistoffmetabolismus sowie die Elimination unmittelbar beeinflussen (Pharmakogenomik). Zu berücksichtigen sind auch subjektive Unterschiede in der Berichterstattung von AE. Aufgrund der umfangreichen Daten, der Probengröße und der Qualität des Studiendesigns können die Ergebnisse den Autoren als robust und repräsentativ angesehen werden.

Bewusstsein schaffen für den Weg in die Präzisionsonkologie

Obwohl wir noch am Anfang stehen, diese Unterschiede zu verstehen, wäre es wünschenswert, wenn geschlechtsspezifische Interventionen zukünftig in Leitlinien und in der klinischen Praxis Berücksichtigung fänden. Denn idealerweise besteht das Ziel einer Therapie darin, maximale Wirksamkeit bei minimaler Toxizität zu erreichen. Zunächst einmal muss jedoch das Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass das Geschlecht ein unabhängiger Modulator für die Wirksamkeit und Toxizität von Arzneistoffen ist.

Quelle

Unger JM, et al. Sex Differences in Risk of Severe Adverse Events in Patients Receiving Immunotherapy, Targeted Therapy, or Chemotherapy in Cancer Clinical Trials. Journal of Clinical Oncology 2022. DOI: https://doi.org/10.1200/JCO.21.02377.