Hervorragend, aber langsam: Studienlandschaft Deutschland

Die DGHO berichtete im Rahmen ihrer Frühjahrstagung 2022, wie es hierzulande um klinische Studien bestellt ist. Demnach ist das Niveau hoch, die Bürokratie bremst jedoch Fortschritt und Wettbewerbsfähigkeit.

40 Jahre Erfolgsgeschichte

Prof. Dr. med. Hermann Einsele, geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie (DGHO), Würzburg, blickte auf vier Jahrzehnte erfolgreiche Studiengeschichte zurück. Ausgehend von der Initiative des Bundesministeriums für Forschung und Technologie (BMFT) in den 80er-Jahren leisteten klinische Studien in Deutschland richtungsweisende Beiträge zum Fortschritt von Krebstherapien. So legte die German Hodgkin Study Group (GHSG) internationale Therapiestrategien fest, sodass heute 75 bis 90% der Patienten mit einem Hodgkin Lymphom dauerhaft geheilt werden können. Ein weiteres herausragendes Beispiel sei die German Multicenter Study Group on Adult Acute Lymphoblastic Leukemia (GMALL), mit deren Ergebnissen neue immuntherapeutische Strategien entwickelt und Therapieempfehlungen für einzelne Patientengruppen formuliert wurden.

Deutsche Studiengruppen haben in den letzten 40 Jahren zur Weiterentwicklung der Behandlungsmöglichkeiten und zum Fortschritt der Krebsbehandlung weltweit beigetragen und international geltende Therapiestandards wesentlich mitgeprägt.

Neue Therapien, verbessertes Langzeitüberleben

Mit Unterstützung des BMBF und der Deutschen Krebshilfe sowie in Kooperation mit der forschenden Pharmaindustrie konnten deutsche Studienzentren zahlreiche neue Arzneimittel entwickeln und zulassen sowie wichtige Publikationen veröffentlichen. Klinische Studien erreichten bei verschiedenen Krebserkrankungen deutliche Verbesserungen beim Langzeitüberleben der Patienten. Prof. Einsele nannte beispielhaft die CAR-T-Zelltherapie, die Therapie des multiplen Myeloms und die Identifizierung diverser Biomarker. Aus den Studien gingen Goldstandards und Leitlinien hervor, die weltweit von Bedeutung sind.

Deutschland liefert Qualität …

Zu den Pluspunkten des hiesigen Standpunktes zählen laut DGHO-Experten die große Expertise der Ärzte sowie das hohe Niveau von Universitäten, Gesundheits- und Forschungseinrichtungen. Zudem punktet der Studienstandort Deutschland mit einer hohen Qualität in der Durchführung und Forschungsleistung sowie guten Förderprogrammen. Die hohe Bevölkerungsdichte ermöglicht hohe Patientenzahlen und Datenmengen. Besonders ist, dass hier zahlreiche niedergelassene Praxen als Studienzentren hervorragend aufgestellt und beteiligt sind, zudem ist die Infrastruktur beispielsweise von Laboren sehr gut.

… ist aber langsam und umständlich

Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland allerdings beim Zeitfaktor schlecht ab. Wo in Frankreich Studien schon abgeschlossen sind, wartet man hier noch auf die Genehmigung. Zeiträume zwischen Einreichung und Einschluss des ersten Patienten sind teilweise viermal so lang wie etwa in Norwegen.

Der bürokratische Aufwand, die mangelnde Harmonisierung von Rahmenbedingungen und die Überregulierung erschweren zunehmend die Studienaktivität der deutschen Studiengruppen.

Diagnose: Kritischer Zustand

Die Verteilung auf viele kleine Zentren ist zwar hilfreich für die Patientenrekrutierung, erschwert aber die Harmonisierung der Studienbedingungen, ist aufwändig und teuer. So wundert es nicht, wenn Deutschland bestehende Vorurteile bestätigt und sich mit einem riesigen Bürokratieapparat selbst im Weg steht.

Dass der Aufwand im Rahmen klinischer Studien in Deutschland wächst, sieht auch Han Steutel, Präsident des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), Berlin, kritisch. Seiner Meinung nach verliert man hierzulande zunehmend an Boden gegenüber anderen Ländern. Das Defizit beim Faktor Zeit koste schon einmal ganze Studien, die seitens der Initiatoren zurückgezogen werden, weil die Vertragsverhandlungen und Genehmigungsverfahren in Deutschland zu lange dauern. Deutlich anders sähe es in den USA und China aus, aber auch in den meisten europäischen Ländern sei die Durchführung klinischer Studien weniger kompliziert und damit schneller.

Folgende Hürden sieht der Experte bei der Realisierung klinischer Studien in Deutschland:

  • Die Vertragsverhandlungen dauern im EU-Vergleich zu lange.
  • Es fehlt an harmonisierten Verträgen zwischen akademischen Einrichtungen und Sponsoren.
  • Die Vertragsprüfungen innerhalb der Kliniken bzw. seitens der Sponsoren dauern oft zu lange.
  • Die regulatorischen Hürden durch Ethikkommissionen, Datenschutz, etc. sind sehr hoch.
  • Die Vernetzung zwischen den innerdeutschen Standorten ist verbesserungswürdig.
  • Die Studienbetreuung ist für Ärzte wenig ergiebig und im Alltag sehr zeitaufwendig.
  • Der Aufwand durch die vielen Studienzentren und die geringe Teilnehmerzahl pro Prüfzentrum ist hoch.
  • Bei globaler Rekrutierung führen Verzögerungen dazu, dass Deutschland nicht eingeschlossen wird.

Den Anschluss nicht verlieren

Mit Blick auf Deutschland als größten Pharmaziemarkt in Europa stuft Han Steutel den Zustand der klinischen Forschung als kritisch ein. Denn der Arzneimittelmarkt sei global aufgestellt und Schnelligkeit auf dem Arzneimittelmarkt ein wichtiger Faktor. Zudem verschärfe die Internationalisierung von klinischen Prüfungen den Wettbewerb zwischen den Standorten. Im zunehmenden Wettbewerb sind Ressourcen, die zwar hervorragend vorhanden sind, aber zu langsam reagieren, in seinen Augen ein ernstzunehmendes Defizit. Innerhalb der Strukturen, etwa in Kliniken, stecke zwar durchaus Verbesserungspotenzial, aber hier sei auch die Politik gefordert.

Verbesserungspotenzial und Netzwerke

Stellschrauben in verschiedenen Bereichen könnten aus Sicht des Experten sein:

  • Vereinfachen und Beschleunigen der Zusammenarbeit von Kliniken und Sponsoren durch Musterverträge sowie bessere Vernetzung,
  • verbesserte Platzierung von Studien in Deutschland durch vereinfachte Ansprache von Studienzentren und ein besseres Bewusstsein über die Bedeutung von Studien,
  • die Chancen der Digitalisierung bei klinischen Prüfungen stärker nutzen,
  • Harmonisieren und Vereinheitlichen der Anforderungen von Ethikkommissionen,
  • Bürokratie abbauen durch mehr Ressourcen für die Verfahren und harmonische Datenschutzregeln.

Netzwerke spielten in der klinischen Forschung eine immer bedeutendere Rolle, betonte auch Prof. Dr. Barbara Eichhorst, stellvertretende Leiterin der German CLL Study Group (GCLLSG), Köln. Zukünftig würden immer komplexere Studien, mehr genetische Subgruppen und immer kleinere Patientengruppen die Studienwelt prägen. Hier können Kooperationen und Netzwerke mit Behörden, Zentrallaboren, Pharmafirmen, aber auch externen Dienstleistern einzelne Arbeitsschritte vereinfachen. Je klarer Absprachen zur Aufteilung der Tätigkeiten und Zuständigkeiten seien, desto besser.

Quelle

DGHO. Virtuelle Frühjahrstagung I. Klinische Studien – Bedeutung und Herausforderungen. 16.02.2022