Wissenschaftler der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) haben die Krankheitsverläufe von SARS-CoV-2-infizierten Patienten mit multipler Sklerose (MS) untersucht. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass von einer immunmodulierenden Therapie kein erhöhtes Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf ausgeht. Im Gegenteil. Die Ergebnisse der Übersichtsarbeit wurden kürzlich im Journal of Clinical Medicine veröffentlicht.
COVID-19 und MS: Unsicherheit bei Behandlern und Betroffenen?
Bestimmte Faktoren erhöhen das Risiko, bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 einen schweren COVID-19-Verlauf zu entwickeln. Dazu gehören fortgeschrittenes Alter, Adipositas, Diabetes mellitus, Bluthochdruck oder Herzschwäche. Wie sieht es jedoch mit dem Risiko für chronisch kranke neuroimmunologische Patienten aus, die zur Behandlung ihrer Grunderkrankung immunsuppressive Therapien erhalten, etwa MS-Patienten?
Thomas Skripuletz, Hannover, zufolge verzichteten einige Ärzte seit Beginn der Pandemie bei ihren MS-Patienten auf immunmodulierende Therapien – aus Sorge, ihren Patienten im Fall einer Infektion mit SARS-CoV-2 möglicherweise zu schaden. Auch einige MS-Patienten selbst setzten aus Unsicherheit ihre Behandlung aus und verschoben Termine in der MHH-Infusionsambulanz. Mit ihrer Übersichtsarbeit wollten die Wissenschaftler der Klinik für Neurologie an der MHH in Zusammenarbeit mit der Uniklinik Essen und der Charité Berlin dazu beitragen, Therapieentscheidungen auch während der Pandemie auf Basis von Fakten zu schaffen.
Offenbar kein negativer Einfluss von MS-Medikamenten
In der Übersichtsarbeit wurden bislang veröffentlichte Fallberichte verschiedener medizinischer Publikationen zusammengeführt. Insgesamt werteten die Wissenschaftler Daten von 873 positiv auf SARS-CoV-2 getesteten MS-Patienten aus und verglichen die Krankheitsverläufe. Von 700 Patienten lagen vollständige Daten vor.
Das Hauptergebnis: Patienten, die weiter mit immunsuppressiven Therapien behandelt wurden, erkrankten weniger schwer und starben seltener als Patienten ohne MS-Therapie.
Die meisten Patienten (n=317, 36%) erhielten eine Anti-CD20-Therapie (Ocrelizumab, Rituximab). Weitere 100 Patienten (12%) bekamen Interferone oder Glatirameracetat. 11% (n=97) erhielten keine krankheitsmodifizierende Therapie.Die übrigen Patienten wurden zu ähnlichen Anteilen mit Natalizumab, Fingolimod, Dimethylfumarat oder Teriflunomid behandelt. Unter Cladribin- oder Alemtuzumab-Therapie wurden nur wenige COVID-19 Fälle berichtet.
204 der Patienten wurden ins Krankenhaus eingeliefert, 24 von ihnen benötigten eine nicht-invasive oder invasive Beatmung. 4% (n=28) der 700 Patienten starben.
Unter den 83 unbehandelten MS-Patienten, für die vollständige Ergebnisse vorlagen, starben 17% unter COVID-19, weitere 7% benötigten eine nicht-invasive oder mechanische Beatmung.
Abschwächung der hyperinflammatorischen Immunantwort
Die Ergebnisse könnten darauf hinweisen, dass die MS-Therapie selbst schützend wirkt oder dass Patienten ohne immunmodulierende Therapie eher zur Gruppe der progressiven MS-Patienten gehörten und daher eher ein fortgeschrittenes Stadium der Krankheit aufwiesen.
Die Autoren der Publikation sehen eine mögliche Erklärung für das Ergebnis in der durch SARS-CoV-2 verursachten überschießenden Immunreaktion. Diese steht im Verdacht, mehr Schäden zu verursachen als das Virus selbst. Die immunmodulierenden MS-Medikamente schwächen eventuell die unerwünschte Hyperaktivität des Immunsystems ab.
Anzumerken bleibt, dass es sich hier um eine Übersichtsarbeit einzelner Fallberichte und nicht um eine randomisierte klinische Studie handelt. Dennoch lässt sich eines ableiten: MS-Patienten sollten nicht aufgrund der Corona-Pandemie auf ihre Therapie verzichten.
Quelle
Möhn N, et al. Experience in multiple sclerosis patients with COVID-19 and disease-modifying therapies: a review of 873 published cases. J Clin Med 2020;9:4067. https://doi.org/10.3390/jcm9124067.