Nicht nur die Homöopathie ist derzeit Gegenstand „hitziger Debatten“. Auch ein im Frühjahr im „Journal of Cancer Research and Clinical Oncology“ veröffentlichter Review zu Wirksamkeit und Nutzen von Mistelpräparaten in der Onkologie sorgt gerade für Wirbel.
Die Mistel in der Onkologie: Wirkt sie oder wirkt sie nicht?
Alternative Heilmethoden, Impfpflicht, Homöopathie: Es gibt Themen im Bereich der Medizin, die besonders leicht hitzige Diskussionen auslösen. Die eine sagt, eine Methode wirke nicht über einen Placebo-Effekt hinaus – die andere kennt jedoch jemanden, bei dem sie gewirkt haben soll. Der eine behauptet, es gebe klinische Studien, die die Wirkung eines Mittels belegen – der andere hält mit methodischen Mängeln bei der Studiendurchführung dagegen.
Eine Veröffentlichung zu Mistelpräparaten in der Onkologie hat vor Kurzem eine neue Diskussion entfacht. Mediziner aus Jena, Bielefeld und Nordhausen kamen in einem zweiteiligen Review zum Schluss, dass die derzeitige Studienlage keine berechtigten Hinweise darauf liefere, Krebspatienten Mistelpräparate zu verschreiben – weder in Bezug auf das Gesamtüberleben noch in Bezug auf Lebensqualität oder Verringerung behandlungsbedingter Nebenwirkungen. Vor allem bei Leukämie, Lymphomen, Nierenkrebs und Melanomen sollten keine Mistelpräparate verordnen werden.
In einem „Letter to the Editor“ nehmen nun einige Mediziner kritisch Stellung zu der Veröffentlichung und werfen den Autoren vor, die Kriterien für eine systematische Literaturrecherche nicht erfüllt zu haben. Als Konsequenz fordern sie sie auf, die Veröffentlichung grundlegend zu korrigieren oder gar zurückzuziehen.
Doch ist diese Kritik gerechtfertigt?
Der Review von Freuding et al.
Die Autoren um die Jenaer Professorin Jutta Hübner hatten in ihre Analysen ausschließlich kontrollierte klinische Studien neueren Datums einbezogen (seit 1995 publiziert). Aus 3647 Treffern der Literaturrecherche extrahierten sie 28 Veröffentlichungen mit 24 verschiedenen randomisierten, kontrollierten Studien.
Die in den Studien eingeschlossenen Patienten hatten die unterschiedlichsten Krebsarten: Brustkrebs oder einen anderen gynäkologischen Tumor, Darmkrebs, Blasenkrebs, einen Kopf-Hals-Tumor, malignes Melanom oder eine andere Krebsart. Sie erhielten je nach Studie unterschiedliche Mistelpräparate und verschiedene konventionelle Therapien (z.B. während einer Chemotherapie, nach Operation oder nach Radiotherapie), was die Vergleichbarkeit der einzelnen Studien erschwerte.
Den Autoren zufolge wiesen viele der Studien einen möglichen Bias auf, so beispielsweise eine Verzerrung durch einseitiges Berichten der Ergebnisse, mögliche Interessenkonflikte, fehlende Verblindung, zu kleine Patientenzahlen oder ungenügende Beschreibung der Therapieprotokolle. Außerdem sahen sie ein Verzerrungsrisiko, wenn viele Studien jeweils von derselben Autorengruppe verfasst wurden oder mehrere veröffentlichte Studien auf eine gemeinsame Kohorte von Patienten verwiesen.
Das Gesamtüberleben wurde in 14 Studien analysiert. In fünf war es unter der Misteltherapie signifikant verbessert, in neun nicht signifikant. Ergebnisse zur Lebensqualität fanden sich in 17 der eingeschlossenen Veröffentlichungen, in sechs davon wurde die Lebensqualität jedoch nur mit selbst entwickelten statt mit international üblichen Fragebögen ermittelt. Studien mit besserer methodischer Qualität zeigten den Autoren zufolge weniger oder keine Auswirkungen auf die Lebensqualität.
In sieben Studien wurde der Einfluss einer Misteltherapie auf Nebenwirkungen einer Chemotherapie untersucht und in der Mehrheit zeigten sich bei Patienten im Mistel-Arm positive Effekte. Dennoch reichten diese Daten den Autoren zufolge nicht aus, um die Aussage zu bestätigen, eine Mistelbehandlung verbessere die Lebensqualität von Krebspatienten. Als Begründung führten die Autoren auch hier Verzerrungen auf – etwa durch die Erwartungshaltung der Patienten aufgrund fehlender Verblindung (die z.T. der lokalen Hautreizung bei Injektion der Mistelpräparate geschuldet ist).
Die Kritik von Matthes et al.
Die Autoren der Kritik beziehen sich in ihrem „Letter to the Editor“ zunächst nur auf den im März 2019 erschienenen Teil des Reviews zum Überleben. Die Aussage, die meisten Studien hätten keinen Effekt von Mistelpräparaten auf das Überleben gezeigt, sei angesichts der verfügbaren Daten nicht gerechtfertigt.
Matthes et al. bemängeln, dass das Fazit des Reviews durch die eingeschlossen Studien nicht gestützt werde. Die Autoren hätten eine Metaanalyse durchführen sollen, mit der sich auch Fragestellungen beantworten lassen, die sich aus einzelnen Studien nicht beantworten ließen. Eine ältere Metaanalyse hätte bereits einen signifikanten Vorteil gezeigt.
Darüber hinaus sei das Verzerrungspotenzial größtenteils fehlerhaft bestimmt worden. Hierzu verweisen sie auf das Cochrane-Handbuch (Cochrane Collaboration’s tool for assessing risk of bias in randomised trials) und führen einzelne Kritikpunkte auf.
Alles offen?
Diese Kritik ist den Autoren des Reviews zufolge nicht gerechtfertigt. Sie hatten sich bewusst gegen eine Metaanalyse entschieden, da die einzelnen Studien sehr heterogen seien, so die korrespondierende Autorin Prof. Dr. Jutta Hübner, Jena, in einer noch nicht veröffentlichten Antwort auf die Kritik. Eine Zusammenfassung sei weder inhaltlich noch methodisch sinnvoll, teilte sie der „Pharmakotherapie“-Redaktion mit.
Diese Meinung hatten auch schon die Autoren eines Cochrane-Reviews vertreten und sich gegen die Durchführung einer Metaanalyse der verfügbaren Studien entschieden. Den Cochrane-Autoren zufolge gab es immerhin Hinweise darauf, dass Mistelextrakte bei Brustkrebspatientinnen die Lebensqualität während einer Chemotherapie verbessern können. Dieser Review ist allerdings schon mehr als 10 Jahre alt. Neuer ist die Zusammenfassung des kamen 2015 ebenfalls zu dem Schluss, dass die Aussagekraft vieler Studien zur Misteltherapie aufgrund methodischer Mängel begrenzt sei und somit keine eindeutigen Empfehlungen für die Behandlungspraxis gemacht werden könnten.
Was hat es mit der Misteltherapie auf sich?
Die Misteltherapie erfreut sich schon lange Beliebtheit bei onkologischen Patienten – vor allem im deutschsprachigen Raum und vor allem bei Brustkrebspatientinnen. In anderen Ländern kommen Mistelextrakte dem Krebsinformationsdienst zufolge deutlich weniger zur Anwendung, in den USA dürfen sie beispielsweise nur im Rahmen klinischer Studien angewendet werden.
Die Anwendung beruht ursprünglich auf anthroposophischen Gesichtspunkten: Da Misteln als Parasit auf anderen Pflanzen schmarotzen und Krebs früher als „Parasit des menschlichen Körpers“ betrachtet wurde, lag die Vermutung nahe, dass ein solcher Parasit gegen Krebs helfen könne – ähnlich wie bei der Homöopathie die Vorstellung existiert, „Gleiches mit Gleichem“ behandeln zu können. Später begannen Forscher dann, die in der Mistel vorkommenden Toxine auf antitumorale Wirkung hin zu untersuchen. In der Literatur werden vor allem zwei Arten positiver Mechanismen der Mistel diskutiert: Eine These besagt, dass zytotoxische Substanzen oder Lektine der Mistel über eine Aktivierung des Immunsystems antitumoral wirken, eine andere These, dass Misteln über Endorphin-Freisetzung Wohlbefinden und Lebensqualität onkologischer Patienten verbessern und möglicherweise Nebenwirkungen verringern können.
Im Allgemeinen gelten Mistelpräparate als gut verträglich. Auf dem Markt finden sich sowohl auf einen bestimmten Lektin-Gehalt standardisierte phytotherapeutische Mistelextrakte als auch anthroposophisch oder homöopathisch hergestellte Präparate.
Kommentar
Nach den Prinzipien der Evidenz-basierten Medizin sollte die Patientenversorgung auf Basis der besten zur Verfügung stehenden Daten geschehen. Für die Beurteilung der Evidenz spielt die Qualität der zugrundeliegenden Studien eine wichtige Rolle. Ergebnisse undurchsichtig oder schlecht durchgeführter Studien sollten Ergebnisse gut durchgeführter – aber vielleicht deutlich kleinerer – Studien nicht verfälschen. Nach bisherigem Kenntnisstand stellt eine Misteltherapie keine Alternative zu geprüften Standardverfahren dar, und wie es aussieht, ist die Evidenz auch für eine begleitende Behandlung eher dünn.
Nichtsdestotrotz gibt es viele Patienten, die ihren Weg eher jenseits der Pfade der Evidenz-basierten Medizin gehen möchten. Respektieren muss man natürlich auch diese Entscheidung. Wichtig ist jedoch – wie bei jeder Behandlungsentscheidung – eine ausführliche und korrekte Aufklärung über Nutzen und Risiken. Wünscht sich ein Krebspatient eine begleitende Misteltherapie, sollten alle beteiligten Behandler davon wissen, betont der Krebsinformationsdienst.
Letztendlich ist es vor allem wichtig, dass man als Patient die bestmögliche medizinische Versorgung und Betreuung erhält. Da ist durchaus noch Luft nach oben.
Quellen
- Freuding M, Keinki C, Micke O, et al. Mistletoe in oncological treatment: a systematic review. Part 1: survival and safety. J Cancer Res Clin Oncol (2019) 145: 695. https://doi.org/10.1007/s00432-018-02837-4
- Freuding M, Keinki C, Kutschan S, et al. Mistletoe in oncological treatment: a systematic review. Part 2: quality of life and toxicity of cancer treatment. J Cancer Res Clin Oncol (2019) 145: 927. https://doi.org/10.1007/s00432-018-02838-3
- Matthes H, Hofheinz RD, Bar-Sela G, et al. Letter to the editors of the Journal of Cancer Research and Clinical Oncology. J Cancer Res Clin Oncol (2019). https://doi.org/10.1007/s00432-019-02926-y
- Freuding M, Keinki C, Micke O, et al. Answer to the letter to the editors by Matthes and colleagues regarding our systematic reviews on mistletoe [noch nicht veröffentlicht]