Individuelle Entscheidungen, größere Medikamentenauswahl und ausgiebigere Prophylaxe – das sind die wichtigsten Neuerungen der aktualisierten Behandlungsempfehlung seitens der Fachgesellschaften.
Überarbeitung der Leitlinie
Nun ist sie fertig, die vollständige Überarbeitung der bisher gültigen S1-Leitlinie von 2018 von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft (ÖKSG) und der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft (SKG). In einer Pressekonferenz stellten die Beteiligten erste Ergebnisse aus dem DMKG-Kopfschmerzregister sowie die wichtigsten Leitlinien-Änderungen vor.
Mehr als ein Drittel der Migränepatienten war nicht leitliniengemäß behandelt worden. Nur 45 % nahmen eine Prophylaxe ein.
Die aktuelle Leitlinie „Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne“ soll wie ihre Vorgängerin Therapiesicherheit gewährleisten und informiert auf der Basis neuester Erkenntnisse über Verfahren, Wirkstoffe und Therapieverlauf, inklusive Gegenanzeigen, Nebenwirkungen und Verträglichkeit einzelner Medikamente. Die überarbeitete Version setzt vermehrt auf eine individuell auf den Patienten zugeschnittene Therapie, die aufgrund der mittlerweile großen Auswahl an Behandlungsoptionen gut möglich ist. Insbesondere für die vorbeugende Therapie wird in der Leitlinie dazu geraten, immer die Schwere und Dauer der Erkrankung zu berücksichtigen sowie die Therapie von den Lebensumständen abhängig zu machen. Eine zentrale Aussage der Fachgesellschaften lautet: Migräne ist behandelbar.
„Ziel der Therapie ist es, Frequenz, Stärke und Dauer der Attacken zu vermindern.
Triptane, Gepante und Ditane im Akutfall
Neu zugelassene Substanzklassen mit neuen Wirkmechanismen erweitern das Spektrum für die Akuttherapie, wenn gängige Schmerzmittel wie Diclofenac oder nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) wie Naproxen nicht ausreichen. Mittlerweile sind in Deutschland sieben Triptane hierfür zugelassen. Almotriptan, Naratriptan und Sumatriptan (50 mg für orale Einnahme) sind sogar frei verkäuflich. Sumatriptan als Injektion bietet Vorteile durch einen schnellen Wirkeintritt und weniger Nebenwirkungen. Erweisen sich Triptane als unzureichend, können sie mit NSAR kombiniert werden.
Die Wirkungsweise der neuen Substanzgruppe der Gepante ist vergleichbar mit der der bekannten monoklonalen Antikörper. Hohe Erwartungen bestehen in Bezug auf den CGRP-Rezeptorantagonisten Rimegepant, für den bereits seit Herbst 2022 eine Zulassung vorliegt, der jedoch noch nicht verfügbar ist.
Die ebenfalls neu zugelassenen Ditane wirken hochselektiv und führen keine Gefäßverengungen herbei wie Triptane. Daher profitieren Migränepatienten mit einem erhöhten Schlaganfall- oder Herzinfarktrisiko von diesen Substanzen, etwa von dem ebenfalls zugelassenen und bald erwarteten Lasmiditan.
Prophylaxe öfter und länger einsetzen
Auch für die Migräneprophylaxe stehen eine Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung, die jedoch nach Einschätzung der Fachgesellschaften nicht hinreichend ausgeschöpft werden. So kann sie die Lebensqualität der Patienten bedeutend erhöhen und beugt einer Chronifizierung sowie dem Übergebrauch von Akutmedikamenten vor. Eine medikamentöse Prophylaxe ist mit Betablockern, Amitriptylin und den mittlerweile vier monoklonalen Antikörpern Erenumab, Fremanezumab, Galcanezumab und Eptinezumab möglich. Valproinsäure ist in den aktualisierten Empfehlungen nicht mehr enthalten, da der Off-Label-Einsatz für diese Indikation aufgrund fehlender Herstellerunterstützung in der Praxis nicht umgesetzt werden kann. Ferner soll Rimegepant auch in der Prophylaxe der episodischen Migräne zukünftig eingesetzt werden.
Neu in der Leitlinie ist die Abkehr von einer Begrenzung auf maximal zwölf Monate für eine vorbeugende Medikation. Je nach Attackenfrequenz, Leidensdruck und Einschränkungen in der Lebensqualität sowie bei begleitenden Angststörungen oder Depressionen wird nun eine längere Prophylaxe empfohlen – abhängig von der individuellen Situation. So sollen Patienten, bei denen ein signifikanter Effekt der Prophylaxemedikation zu beobachten ist, diese bis zu 24 Monate erhalten.
Oft vernachlässigt: ergänzende Maßnahmen
Lifestyle-Aspekte finden sich nun ebenfalls in der Leitlinie. Sie tragen ebenso dazu bei, dass eine niedrigfrequente Migräne nicht zu einer chronischen wird. Dazu haben sie praktisch keine Nebenwirkungen und geben dem Patienten die Möglichkeit, selbst aktiv etwas tun zu können.
Nicht-medikamentöse Maßnahmen sind die unverzichtbare zweite Säule jeder Migränetherapie.
Neben Ausdauersport, Biofeedback und Entspannungsverfahren finden kognitive Verhaltenstherapie und die externe Stimulation des Trigeminusnervs durch aufgeklebte Elektroden Erwähnung in der Leitlinie. Apps und Telemedizin können Diagnostik und Therapie insbesondere durch Verlaufs- und Erfolgskontrollen unterstützen.
Definitiv nicht hilfreich sind laut Aussage der Expertin: Homöopathie, Diäten und Nahrungsergänzungsmittel, Piercing, invasive Neurostimulation und chirurgische Eingriffe am Musculus corrugator supercilii.
Quelle
Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. Pressekonferenz: „Neue S1-Leitlinie zu Therapie und Prophylaxe der Migräne“ am 11. Januar 2023.