Diabetische Polyneuropathie wird nicht nur durch in Mitleidenschaft gezogene Neurone verursacht, sondern kann auch muskulär bedingt sein. Das fand ein Forschungsteam der Universitätsmedizin Mainz heraus. Ärzte sollten das bei routinemäßigen Untersuchungen im Hinterkopf behalten.
Ein unterschätztes Problem
Ungefähr die Hälfte aller Diabetiker entwickelt eine diabetische Polyneuropathie (DN), an deren Entstehung metabolische, vaskuläre und immunologische Faktoren beteiligt sind. Bei bis zu einem Drittel der Patienten verursacht diese Folgeerkrankung Schmerzen. Somit kommt die schmerzhafte diabetische Polyneuropathie (pDN) vergleichsweise häufig vor, ist in der Praxis aber eher ein unterschätztes Problem. Charakteristisch für pDN ist eine schwerere Ausprägung der Neuropathie und ein höheres Risiko für die Entwicklung von Depression und Angstzuständen. Damit geht eine stärkere Beeinträchtigung der Lebensqualität von Betroffenen einher. Eine maßgebliche Rolle bei der Schmerzentstehung spielen:
- hyperaktive periphere Nozizeptoren
- zentrale nozizeptive Sensibilisierung
- ineffiziente Schmerzkontrolle
Studien zu muskulär bedingter pDN fehlten bislang
Bisherige Studien haben sich auf die Unterschiede der Schmerzmechanismen zwischen schmerzhafter und nicht schmerzhafter Polyneuropathie konzentriert. Keine dieser Arbeiten berücksichtigte jedoch die Abgrenzung zwischen neuropathischem und muskoskelettalem Schmerz bei DN, kritisieren die Autoren der vorliegenden Studie.
Studiendesign
Um das zu ändern, untersuchte das Forschungsteam 69 Probanden, darunter 25 Frauen, mit DN und einem Durchschnittsalter von 66 Jahren. Patienten mit chronischen Schmerzsyndromen oder Neuropathien, die nicht im Zusammenhang mit der Stoffwechselerkrankung standen, wurden ausgeschlossen. Das Vorliegen einer diabetischen Polyneuropathie wurde bei allen Patienten durch den quantitativen Sensortest (QST) bestätigt. In die Ergebnisse flossen die Bewertung des myofaszialen Schmerzes bei den Betroffenen und ein Schmerztoleranztest (Kälte-Druck-Test) ein. Zusätzliche Parameter wie Ängstlichkeit, Depression oder die Beeinträchtigung im Alltag durch pDN erhoben die Forscher mit der Hospital Anxiety and Depression Scale [HADS].
Höherer Analgetikaverbrauch
Das Forschungsteam ermittelte insgesamt 41 Teilnehmer mit einer pDN, die verbleibenden 28 Probanden waren dagegen von einer nicht schmerzhaften DN betroffen. pDN-Patienten wiesen im Durchschnitt eine erhöhte Schmerzintensität auf, zeigten eine schlechtere Schmerztoleranz und -kontrolle sowie höhere HADS-Werte. Außerdem berichteten sie von einer stärkeren Beeinträchtigung im Alltag als die Vergleichsgruppe ohne myofaszialen Schmerz. Vermutlich griffen die pDN-Patienten deshalb häufiger zu Analgetika als diejenigen ohne eine pDN (29,3 % vs. 3,6 %).
Identifikation von Muskel-Trigger-Punkten
Charakteristisch für myofasziale Schmerzen sind sogenannte aktive Muskel-Trigger-Punkte. Diese Punkte führen bei direkten Abtasten zu lokalen Schmerzen, die spontan oder während körperlicher Belastung auftreten können. Das Forschungsteam identifizierte bei 22 % der Teilnehmer mit pDN solche Punkte, vor allem in der Wadenmuskulatur und an der Fußsohle. Interessanterweise fanden die Wissenschaftler jedoch keine Hinweise auf Muskel-Trigger-Punkte bei Patienten ohne pDN.
Fazit
Dass eine diabetische Polyneuropathie muskuläre Ursachen haben kann, ist eine neue und zugleich überraschende Erkenntnis. Denn bisher bestand ein Konsens darüber, dass diese diabetische Folgeerkrankung durch neuronale Schädigungen verursacht wird. Myofasziale Schmerzen treten bei Diabetikern mit einer Polyneuropathie häufiger auf als bisher angenommen. Da sie vergleichsweise leicht zu identifizieren sind, empfehlen die Autoren ein routinemäßiges Screening auf myofasziale Schmerzen bei Diabetikern mit einer Polyneuropathie im Hinblick auf eine personalisierte Schmerzbewertung und -therapie.
Quelle
Escolano-Lozano F, et al. Painful diabetic neuropathy – myofascial pain makes the difference. Diabetes Care 2022;45:e1–e2; doi: https://doi.org/10.2337/dc22-1023.