Durch den Aufbau einer Referenz-Datenbank für Serum-Neurofilament-Werte ist es Ärzten nun möglich, die individuelle Krankheitsprogression bei Patienten mit multipler Sklerose (MS) vorherzusagen.
Was ist das Leichtketten-Neurofilament?
Neurofilament light chain (NfL) ist ein neuroaxonales, zytoskelettales Protein, das bei neuronaler Schädigung in den Liquor und auch in das Blut abgegeben wird. Durch die neuronalen Schädigungen, aber auch mit zunehmendem Alter, kommt es zu einem Anstieg des sNfL. Allerdings fehlten bisher repräsentative Referenzwerte für den altersabhängigen sNfL-Anstieg, was den patientenindividuellen Einsatz des diagnostischen Biomarkers verhindert hat.
Hintergrund der Studie
Aktuell verfügbare klinische Messmethoden und Standardbildgebungsverfahren wie die Magnetresonanztomografie (MRT) sind unzureichend, um eine subklinische Krankheitsaktivität bei MS-Patienten zu detektieren. Letztere ist jedoch hauptverantwortlich für den Behinderungsverlauf bei MS. Die Autoren der vorliegenden Studie haben daher anhand mehrerer Kohortenstudien untersucht, ob sich sNfL
- für die Vorhersage der zukünftigen Krankheitsaktivität bei MS-Patienten eignet und/oder
- Hinweise auf das therapeutische Ansprechen krankheitsmodifizierender Arzneimittel (DMDs) liefern kann
Datenbank für sNfL-Referenzwerte
Entwicklung
In die Referenz-Datenbank flossen Daten aus vier europäischen und amerikanischen Kohortenstudien ein. Die Teilnehmer hatten keine ZNS-Erkrankungen (Kontrollgruppe). Im Anschluss untersuchten die Autoren die Datenbank an insgesamt 1313 MS-Patienten der Swiss Multiple Sclerosis Cohort (SMSC), einer Kohortenstudie an acht akademisch-medizinischen Zentren in der Schweiz. In SMSC eingeschlossen waren Patienten mit einem Rezidiv oder sekundär progredienter MS.
Nutzen
Anhand von 4532 Blutproben der Kontrollgruppe und aller MS-Patienten ermittelten die Autoren die sNfL-Konzentrationen mittels quantitativem Immunassay (Quanterix®). Die erhobenen Daten wurden an Alter und Body-Mass-Index (BMI) angepasst und als Z-Werte ausgedrückt, die als Messparameter und Prädiktoren für die zukünftige Krankheitsaktivität bei MS-Patienten herangezogen wurden. Als willkürlichen Cut-off-Wert definierten die Autoren sNfL ≤ 10 pg/ml als nicht pathologische sNfL-Konzentration, was einem normalen Z-Score von 0–1,5 entsprach. Durch den Vergleich der sNfL-Z-Scores mit klinischen und MRT-Charakteristika konnte das Forschungsteam Rückschlüsse auf die individuelle Krankheitsprogression der MS-Patienten ziehen.
Z-Score: Der „Z-Score“ gibt an, um wie viele Standardabweichungen ein Messwert vom erwarteten Mittelwert abweicht.
Validierung
Die Ergebnisse wurden in einer unabhängigen Gruppe mit MS-Patienten (n = 4341) aus dem Swedish Multiple Sclerosis Register validiert. Darüber hinaus untersuchten die Autoren mit der Referenz-Datenbank, ob sich sNfL als Endpunkt für Gruppenvergleiche zwischen DMD eignet, um deren Langzeitwirksamkeit quantifizieren und vergleichen zu können.
sNfL als Prädiktor für die Krankheitsprogression
Die Autoren beobachteten einen altersabhängigen exponentiellen Anstieg der sNfL-Konzentration bei MS-Patienten und in der Kontrollgruppe. Erhöhte sNfL-Z-Scores (> 1,5) gingen bei allen MS-Patienten eindeutig mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für eine Krankheitsaktivität im Folgejahr einher. Gleiches galt für Patienten, die als stabil betrachtet wurden, also keine Anzeichen einer Krankheitsaktivität zeigten. Darüber hinaus nahm auch das Rezidivrisiko bei erhöhten sNfL-Z-Scores zu.
Pharmakotherapien im Vergleich
Im Vergleich zu unbehandelten Personen war eine Hierarchie in der Therapieeffektivität erkennbar, die nachfolgend in absteigender Reihenfolge dargestellt ist:
- Monoklonale Antikörper: Alemtuzumab, Natalizumab, Ocrelizumab und Rituximab
- Orale Therapie mit Dimethylfumarat, Fingolimod, Siponimod und Teriflunomid
- Interferon beta und Glatirameracetat (GLAT)
- Unbehandelt
Im ersten Jahr nach Therapieeinleitung sanken die sNfL-Z-Scores bei allen behandelten Patienten rasch. Dagegen nahmen sie bei Unbehandelten nur marginal ab. Besonders schnell erfolgte die Reduktion unter einer hocheffektiven Antikörpertherapie, etwas langsamer jedoch unter oraler Therapie mit DMDs und am geringsten ausgeprägt war sie bei Patienten mit Interferon beta oder GLAT.
Fazit
sNfL ist der erste Serumbiomarker, der in klinischen Studien Aufschluss über die Krankheitsaktivität und den zukünftigen, individuellen Krankheitsverlauf bei MS geben konnte. Daneben lieferte er auch Hinweise über das individuelle therapeutische Ansprechen von MS-Patienten auf DMDs. sNfL besitzt das Potenzial die diagnostische Lücke in der Detektion subklinischer Krankheitsaktivität zu schließen und ermöglicht Ärzten eine zielgerichtete Therapieauswahl etablierter Pharmakotherapien. Um den Gebrauch von sNfL-Z-Scores in der klinischen Praxis zu erleichtern, steht die Referenz-Datenbank in Form einer App zur Verfügung.
Quelle
Benkert P, et al. Serum neurofilament light chain for individual prognostication of disease activity in people with multiple sclerosis: a retrospective modelling and validation study. Lancet Neurol 2022; 21:246–57. Doi: 10.1016/S1474-4422(22)00009-6.