In einer heterogenen Gesellschaft gibt es nicht den einen Patienten – schon gar nicht nur den jungen, weißen Mann ohne Vorerkrankungen. Der stellt jedoch oft die Basis in Forschungsprojekten und frühen klinischen Studien sowie für Therapieempfehlungen. Für eine individuell bestmögliche Versorgung braucht es vielmehr eine spezielle Betrachtung, damit jeder Patient die für ihn richtige Behandlung zur richtigen Zeit erhält. Der erste Diversity in Health Congress 2022 beleuchtete verschiedene Faktoren des Gesundheitssystems hinsichtlich Gleich- bzw. Ungleichbehandlungen.
Klares Ziel, schwierige Umsetzung
Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung heißt es, geschlechtsbezogene Unterschiede in Versorgung, Gesundheitsförderung, Prävention und Forschung sollen berücksichtigt sowie Diskriminierungen und Zugangsbarrieren abgebaut werden. Auch bei den Leistungen der Krankenkassen ist gemäß Sozialgesetzbuch „bei geschlechts- und altersspezifischen Besonderheiten Rechnung zu tragen“. Was in der Theorie so beeindruckend formuliert ist, hat in der Praxis leider wenig Relevanz. Gründe gibt es viele: Es fehlen Daten oder Produkte, vorhandene Strukturen des Gesundheitssystems sind nicht dementsprechend ausgelegt oder gesetzliche Grundlagen stehen dem entgegen. Es gibt jede Menge Herausforderungen, wie die auf dem Diversity in Health Congress 2022 am 22. März präsentierten Zahlen offenbarten.
Abschied vom männlichen Normkörper
Frauen und Männer, Ältere und Jüngere sowie Menschen verschiedener ethnischer Zugehörigkeit reagieren unterschiedlich auf Therapien und Arzneimittel. Dennoch liegen dem Großteil medizinischer Studien vorrangig Daten von jungen, weißen Männern zugrunde. Entsprechend orientieren sich Behandlungsstandards und Medizinprodukte an diesem Vorbild. Es dürfte niemanden überraschen, dass Diagnosekriterien und Behandlungsstandards, die auf Datenanalysen amerikanischer Soldaten beruhen, bei Frauen vermehrt zu Fehldiagnosen und suboptimalen Therapien führen.
Doch nicht nur Frauen erleben Benachteiligungen. Männer mit Brustkrebs erhalten verspätete Diagnosen und eine geringere Versorgungsqualität als Frauen mit dieser Erkrankung. Ganz zu schweigen von inter- oder transsexuellen Menschen, die inmitten kategorisch abgegrenzter Fachgebiete häufig komplett untergehen.
Gleich ist nicht immer gerecht
Gleichheit ist nicht für alle das Beste. Letztendlich ist in der Medizin wie im Leben manchmal der Wunsch nach Gleichbehandlung oder eben nach Ungleichbehandlung vorherrschend – abhängig von der Situation. Ein Patient, der in gebrochenem Deutsch in der Praxis anruft, verdient die gleiche Chance auf einen Termin wie jemand, der eloquent seinen Wunsch äußert. Andererseits sollte das Thema Darmkrebsvorsorge bei einer jungen Frau mit entsprechender Familienanamese und bekannten Risikofaktoren ernster genommen werden als bei Gleichaltrigen ohne vergleichbaren Hintergrund.
Das Dilemma im Streit um Gleichheit und Ungleichheit: Eine Standardisierung ist einerseits notwendig, um überhaupt Forschung betreiben und beispielsweise Leitlinien erstellen zu können. Außerdem ist eine homogene Gruppe schneller und einfacher auszuwerten als ein Datenpool mit unzähligen Individuen unterschiedlichster Zusammensetzung. In der Praxis kann diese Standardisierung andererseits aber für einzelne Patienten(gruppen) eine unfaire Behandlung darstellen. Wünschenswert ist eine Medizin, die individuelle Eigenschaften berücksichtigt, um die jeweils bestmögliche Behandlung zu erreichen. Wegweisend ist hier die moderne Onkologie, wo immer mehr personalisierte oder genmodifizierte Therapien Anwendung finden.
Technologien als Chance
Die Nutzung von Algorithmen in der Diagnostik, bei der Datenerhebung und bei der Entwicklung von Arzneimitteln bietet gerade unter Diversitäts-Aspekten neue Möglichkeiten. Denn wo Objektivität, Ausbildung und Erfahrung fehlen, können digitale Systeme bessere Ergebnisse erzielen. Zum Beispiel erkennen Ärzte schwarzen Hautkrebs auf dunkler Haut später als bei hellhäutigen Menschen. Da zudem die Prognosen für diese Ethnie schlechter sind, kommt es hier besonders auf eine frühzeitige Diagnose an.
Künstliche Intelligenz (KI) kann trainiert werden und stetig dazulernen, ist aber auf einen vielfältigen Informationspool angewiesen. Ansonsten setzen sich Daten-Bias von Anamnese über Diagnose und Therapie bis zur Verlaufskontrolle fort. Laut der Kongressreferenten ist die KI beispielsweise in der Kardiologie, Radiologie sowie bei psychiatrischen Erkrankungen überwiegend auf männliche Patienten ausgelegt. Hier bedarf es zukünftig mehr Breite und Tiefe in diversen Datenpools.
Quelle
Diversity in Health Congress 2022. Livestream am 22.03.2022, Veranstalter: WIG2 GmbH, Wissenschaftliches Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung, Leipzig. https://www.wig2.de/veranstaltungen/diversity-in-health-congress-2022.html.