In der Auftaktpressekonferenz zum diesjährigen Schmerz- und Palliativtag kritisierte Priv.-Doz. Dr. Michael A. Überall, Nürnberg, dass Patienten mit Schmerzen im Rücken und Gelenken zu häufig unters Messer kommen. Die Evidenz für die vielen durchgeführten Wirbelsäulen- und Gelenkoperationen sei nämlich unzureichend.
Wirbelsäulen und Gelenke sind häufigstes OP-Gebiet
Die Zahl der operativen Eingriffe an der Wirbelsäule wegen Kreuz- und Rückenschmerzen stieg in den letzten Jahren in Deutschland – mittlerweile die häufigste OP-Indikation, gefolgt von Gelenkoperationen. 2020 wurden 735.000 Wirbelsäulen und 580.916 Gelenke operiert. Dabei gab es große regionale Unterschiede, die schmerzmedizinisch nicht erklärbar sind.
Eine Begründung könnte laut Überall sein, dass die Operationen nicht bedarfs-, sondern angebotsorientiert durchgeführt werden. Ein weiterer Grund könnte die deutlich attraktivere Vergütung für Operationen als für die konservative Therapie sein.
Schein-OP genauso wirksam wie echte OP
Zahlreiche Studien zu Wirbelsäulen- und Gelenkoperationen haben gezeigt, dass eine Scheinoperation bei Schmerzpatienten oft genauso wirksam ist wie eine wirklich durchgeführte Operation. So erwiesen sich unter anderem eine Vertebroplastie, die chirurgische Versorgung einer Osteoarthritis oder spinalen Stenose der Lendenwirbelsäule, eine Meniskusresektion sowie Operationen bei weiteren orthopädischen Indikationen als unwirksam, bei gleichzeitig erhöhter Nebenwirkungsrate gegenüber dem Scheineingriff.
Zweitmeinung als Schutz vor unnötigen Operationen
Daten von mehr als 7000 Patienten aus den Jahren 2019 bis 2021 zeigen, dass angeordnete Operationen häufig nicht unbedingt notwendig sind. Patienten mit Einweisung zur Operation wurden durch ein interdisziplinäres Team erneut bewertet. Dieses sprach sich in 97,6% der Fälle gegen die angeordnete schmerzbedingte Wirbelsäulenoperation und in 87,3% der Fälle gegen die angeordnete Gelenkendoprothetik aus. Mittel der Wahl wäre dagegen häufig eine interdisziplinäre ambulante multimodale Schmerztherapie.
Diese Patienten lagen eigentlich schon auf dem Operationstisch!
Leider sind diese interdisziplinären Teams die Ausnahme, nicht die Regel. Häufig werden für das Zweitmeinungsverfahren Ärzte aus ebenfalls operativnahen Disziplinen hinzugezogen. Erst seit 2021 sind Ärzte – „die wirklich in der Versorgung der Patienten stehen, die nicht bevorzugt operieren wollen“ – aus Allgemeinmedizin, Innere Medizin oder Anästhesiologie jeweils mit der Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ ebenfalls zweitmeinungsberechtigt.
Multimodale Schmerztherapie statt OP
Leider nehmen Patienten das Zweitmeinungsverfahren nicht immer in Anspruch. Überall plädiert daher für eine verpflichtende Zweitmeinung. Dabei sollte nicht wie bisher hauptsächlich die technische Operabilität bewertet werden, sondern vor allem geprüft werden, ob wirklich alle konservativen Therapien ausgeschöpft sind. Das sollte optimalerweise in interdisziplinären Schmerzkonferenzen erfolgen. Die Therapie soll auf eine schnelle und nachhaltige Beschwerdelinderung ausgerichtet sein.
Damit ist ganz klar, wohin die Reise gehen soll. Es muss im Kontext einer interdisziplinär angelegten und ambulant durchgeführten multimodalen Schmerztherapie das bestmögliche für den Patienten erzielt werden. Und nur in ganz wenigen Fällen ist dafür eine Operation notwendig.
Quelle
Auftaktpressekonferenz des Schmerz- und Palliativtages 2022. Priv.-Doz. Dr. med. Michael A. Überall, Nürnberg, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. Schmerzen multimodal behandeln statt operieren – Die Bedeutung einer zweiten Meinung für Schmerzpatienten. Schmerz- und Palliativtag 2022, 22. bis 26. März 2022, virtuell.