Das Fibromyalgie-Projekt

Im Rahmen der Jahresauftakt-Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin haben drei ausgewiesene Experten Updates aus den Bereichen der Schmerz- und Palliativmedizin vorgestellt, darunter auch das Fibromyalgie-Projekt. Aber was genau verbirgt sich dahinter?

Versorgungslage in Deutschland

Zunächst referierte Herr Dr. med. Johannes Horlemann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V., über die schmerzmedizinische Versorgung und deren Entwicklung in Deutschland. Seiner Ansicht nach seien letztere sowie das hohe Chronifizierungspotenzial besorgniserregend: Insgesamt 23 Millionen Menschen leiden hierzulande an chronischen Schmerzen. Obwohl im ambulanten Bereich aktuell etwa 1200 Schmerzmediziner schwerstgradig Betroffene versorgen, wären für eine flächendeckende Versorgung aber mindestens 10 000 Schmerzmediziner nötig. Aus Sicht der Fachgesellschaft verdeutliche diese Schätzung, dass Maßnahmen gegen die Unterversorgung – im Sinne einer zukunftsorientierten Schmerzmedizin –  zu einer der großen Herausforderungen zukünftiger Gesundheitspolitik zählen.

Fibromyalgie – eine komplizierte Erkrankung

Die Fibromyalgie ist ein eher seltenes und zudem schwierig zu diagnostizierendes Krankheitsbild, macht sie nur einen Bruchteil der chronischen, nicht-tumorbedingten Schmerzen aus. Die Diagnose „Fibromyalgie“ schließt nicht aus, dass noch weitere chronische klinisch relevante (Schmerz-)Erkrankungen bei einem Patienten vorliegen. Unglücklicherweise werden letztere häufig primär behandelt und nicht die Fibromyalgie selbst. Wie diese Erkrankung entsteht, welche Symptome auftreten und welche Therapiemöglichkeiten es gibt, haben wir vor einiger Zeit auf unserem Blog zusammengefasst.

Fibromyalgie ist wie Migräne ein positiv zu diagnostizierendes Schmerzsyndrom und schließt das Vorliegen anderer klinisch wichtiger (Schmerz-)Erkrankungen nicht aus.“

Das PraxisRegister Schmerz …

Um die schmerzmedizinische Versorgung von Menschen mit einer chronischen Schmerzerkrankung zu optimieren, ist Versorgungsforschung auf Basis von Routinedaten der Regelversorgung notwendig. Dafür wurde 2014 das PraxisRegister Schmerz (iDocLive®) ins Leben gerufen. Es ist das weltweit größte, unabhängige Netzwerk und für DGS-Mitglieder sowie alle Patienten kostenlos verfügbar. Die Datenbank hält umfangreiche Informationen zu Ursachen, Symptomen und Therapieoptionen von chronischen Schmerzpatienten bereit. Seit seiner Etablierung ist das Register enorm gewachsen und enthält aktuell über 350 000 Patientenfälle (Stand 31.12.2021) – darunter auch zahlreiche über Fibromyalgie. Pro Arbeitstag kommen etwa 20 neue Behandlungsfälle hinzu, wodurch das Netzwerk kontinuierlich wächst.

Nutzen

Unter dem Motto „besser heilen durch Daten teilen“ zielt das Register aus ärztlicher Sicht darauf ab, Versorgungsstrukturen kritisch zu hinterfragen und den Austausch von Daten zwischen dem stationären und ambulanten Bereich zu erleichtern. Darüber hinaus ermöglicht es allen interdisziplinären Berufsgruppen (z. B. Schmerzmedizinern, Physiotherapeuten und Psychologen) von den Erfahrungen anderer im Hinblick auf das Ansprechen der Patienten auf eine Therapie zu profitieren. Insbesondere die individuelle Patientenversorgung und die zielgerichtete Evaluation der Wirksamkeit und Verträglichkeit durchgeführter Therapien sind von großer Bedeutung. Oder anders gesagt: Es geht um kollektive Versorgungsforschung, Real-World Evidenz und eine optimierte schmerzmedizinische Versorgung.

… und das Fibromyalgie-Projekt

Um die schmerzmedizinische Versorgung von Fibromyalgie-Patienten zu verbessern, wurde das Fibromyalgie-Projekt auf die Beine gestellt. Dafür wurden im Auftrag der DGS 30 000 Patientendaten hinsichtlich Epidemiologie, klinischer Symptomatik und Beschwerdelast aus dem PraxisRegister Schmerz – industrie-unabhängig – analysiert. Das Ziel des Projektes bestand darin, Einblicke in die Epidemiologie und die biopsychosozialen Beeinträchtigungen von Patienten mit Fibromyalgie zu erhalten, denn die Auswirkungen auf die Lebensqualität sind enorm. Die Identifizierung entsprechender anonymisierter Patientenfälle erfolgte retrospektiv auf Basis international etablierter diagnostischer Parameter. Insgesamt 15 211 Patienten (von 330 234 Fällen, Stand 30.06.2021) mit Fibromyalgie wurden identifiziert und analysiert. Neuere Daten wurden (bislang noch) nicht vorgestellt.

Auszug aus den Ergebnissen

  • Obwohl überwiegend Frauen von Fibromyalgie betroffen sind, waren 14,3 % der identifizierten Patienten Männer.
  • Trotz eindeutiger Diagnosekriterien war nur bei etwa 70 % der Fibromyalgie-Patienten die Diagnose bekannt, in 30 % der Fälle waren Ärzte noch auf der Suche nach einer Diagnose und passenden Therapiekonzepten.
  • Im Vergleich zur erfassten Gesamtpopulation aus dem PraxisRegister Schmerz traten (psychische) Belastungen unter einer Fibromyalgie überproportional häufig auf.
  • Die Lebensqualität von Fibromyalgie-Patienten ist insgesamt deutlich herabgesetzt, z. B. durch Schlafstörungen und Suizidgedanken.
  • Mit 15,7 % kommen Suizidgedanken bei Fibromyagliepatienten deutlich häufiger vor als bei anderen im Register erfassten chronischen Schmerzpatienten (1,3 %).

Nutzen

Das Fibromyalgie-Projekt soll dazu beitragen, die Versorgung von Fibromyalgie-Patienten zu verbessern. Denn die systematische Erfassung und Bereitstellung anonymisierter Patientendaten aus dem PraxisRegister Schmerz ermöglicht die epidemiologische Evaluation unterschiedlichster Schmerzerkrankungen, unter anderem der Fibromyalgie. Daneben eröffnet es neue Perspektiven zum Verständnis spezifischer Krankheitsbilder und deren Therapie. Das Ziel dahinter ist, eine zukunftssichere schmerzmedizinische Versorgung in Deutschland sicherzustellen. In den letzten Jahren hat sich das Fibromyalgie-Projekt in Deutschland zu einem eigenständigen und transdisziplinären Forschungsgebiet entwickelt. Denn neben Schmerzmedizinern bezieht es auch Psychologen und Psychotherapeuten mit ein.

Ein Blick in die Glaskugel

Am Ende der Pressekonferenz richteten die drei Experten noch einen Blick in das Jahr 2027. Nach Ansicht von Dr. med. Johannes Horlemann gäbe es zu diesem Zeitpunkt konkrete Umsetzungs(pläne) für den Facharzt für Schmerzmedizin und aus Patientensicht hätten Betroffene einen schmerzmedizinisch kompetenten Ansprechpartner. Norbert Schürmann, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V., geht das noch nicht weit genug: Er fordert zusätzlich den Facharzt für Palliativmedizin. Dr. Michael A. Überall sprach sich mit Überzeugung dafür aus, dass in fünf Jahren jedem Arzt ein elektronischer Assistent zur Verfügung stehen wird, der ihm dabei helfen könnte, Patienten richtig zu diagnostizieren und deren Therapie zu evaluieren. Einig waren sich die drei Referenten aber, dass aufgrund des sich zukünftig wahrscheinlich noch verschärfenden Ärztemangels eine bessere Zusammenarbeit im stationären und ambulanten Bereich wünschenswert und dringend erforderlich wäre.

Quellen

  • Jahresauftakt-Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (DGS) vom 26. Januar 2022
  • Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (DGS)