Gibt es die „traditionellen“ Diabetes-Komplikationen überhaupt noch? Einem erkennbaren Trend zufolge treten bei Diabetikern zunehmend unspezifischere Begleiterkrankungen auf. Dazu gehören ein erhöhtes Risiko für Infektionen, Leber- und Diabetes-assoziierte Tumorerkrankungen.
Diabetische Folgeerkrankungen im Fokus
Diabetes mellitus kann zu einer Vielzahl charakteristischer Komplikationen führen. Zu den typischen, ,,traditionellen“ Folgeerkrankungen gehören:
- akute metabolische Dekompensationen: diabetische Ketoazidose
- makrovaskuläre Gefäßerkrankungen: Ischämien, Myokardinfarkt, Schlaganfall
- mikrovaskuläre Gefäßerkrankungen: Retinopathie, periphere Neuropathie
- Amputationen
Morbidität und Hospitalisierung von Diabetikern sind jedoch nicht nur auf spezifische metabolische Komplikationen zurückzuführen. Das haben die Autoren der kürzlich in The Lancet publizierten epidemiologischen Studie zum Anlass genommen die Trendentwicklungen der Hospitalisierungen und deren Ursachen von englischen Typ-1- und Typ-2-Diabetikern zu untersuchen.
Studiendesign
An der Beobachtungsstudie nahmen über 300.000 Diabetiker teil, die mindestens 18 Jahre alt waren und zwei Antidiabetika einnahmen. Die Studienpopulation wurde 1:1 mit Nicht-Diabetikern verglichen, das Alter und Geschlecht waren dabei in beiden Gruppen vergleichbar. Um das Spektrum der Ursachen zu untersuchen, die für die Hospitalisierungen verantwortlich sind, definierten die Studienautoren mehrere Komorbiditäts-Kategorien:
- traditionelle, Diabetes-spezifische Komplikationen, z.B. Hyperglykämie-Krise, Myokardinfarkt, chronische Nierenfunktionsstörung, Amputationen
- unspezifische Diabetes-Komplikationen, z.B. erhöhtes Risiko für Infektionen, Leber- und Diabetes-assoziierte Tumorerkrankungen (Kolorektal-, Pankreas-, Leber-, Mamma, Endometrium- und Gallenblasenkarzinome)
- andere Komplikationen, die nicht auf mikro- oder makrovaskulären Erkrankungen beruhen, z.B. Atemwegsinfektionen und alle anderen, nicht Diabetes-assoziierten Tumorentitäten
Ergebnisse
Zu Studienbeginn betrug das mediane Alter der Diabetes-Population 64 Jahre (Männer) bzw. 68 Jahre (Frauen), die Teilnehmer der Kontrollgruppe waren etwas jünger (Männer 57 Jahre vs. Frauen 60 Jahre). Während 51.000 Männer und 44.000 Frauen im Jahr 2003 der Diabetes-Population angehörten, waren es 2018 insgesamt 117.000 Männer und 102.000 Frauen. Über den gesamten Studienzeitraum eliminierte sich der Altersunterschied sowohl zwischen den Populationen als auch zwischen den Geschlechtern. Sowohl die Adipositas-Prävalenz als auch die Hospitalisierungsraten waren bei den Diabetikern erwartungsgemäß höher als in der Kontrollgruppe.
Hospitalisierungsursachen im Jahr 2003
Bei männlichen Diabetikern war die Erkrankung Diabetes mellitus an sich die führende Ursache für eine Hospitalisierung, gefolgt von Ischämien und Atemwegserkrankungen. Bei den Frauen waren die Ergebnisse der Top 3 Ursachen, die zu einer Krankenhauseinweisung führten, ähnlich (s. Tab.).
2003 | ||||
Hospitalisierungen pro 10.000 Personenjahre | ||||
Frauen | Männer | |||
Gründe für Hospitalisierungen | Diabetes-Population | Kontroll-Gruppe | Diabetes-Population | Kontroll-Gruppe |
Ischämien | 179,8 | 92,0 | 278,4 | 139,5 |
Tumorerkrankungen | ||||
Diabetes-assoziiert | 75,1 | 46,9 | 46,3 | 25,8 |
Nicht Diabetes-assoziiert | 159,3 | 135,8 | 238,9 | 197,8 |
Atemwegsinfektionen | 59,4 | 38,4 | 64,6 | 44,3 |
Chronische Nierenerkrankungen | 19,4 | 7,3 | 21,9 | 13,6 |
Lebererkrankungen | 9,7 | 3,3 | 18,2 | 5,6 |
Hospitalisierungsursachen im Jahr 2018
16 Jahre später hatte sich das Bild etwas verändert, denn nun lagen Diabetes-assoziierte Tumorerkrankungen bei den Frauen und Männern auf Platz 1 der Gründe für Hospitalisierungen, gefolgt von Ischämien und Atemwegsinfektionen. Die Autoren konnten ebenfalls einen Anstieg der Krankenhauseinweisungen aufgrund von Lebererkrankungen beobachten. Stationäre Aufnahmen bedingt durch vaskuläre und renale Erkrankungen waren dagegen rückläufig.
2018 | ||||
Hospitalisierungen pro 10.000 Personenjahre | ||||
Frauen | Männer | |||
Gründe für Hospitalisierungen | Diabetes-Population | Kontroll-Gruppe | Diabetes-Population | Kontroll-Gruppe |
Ischämien | 118,3 | 60,5 | 197,8 | 99,1 |
Tumorerkrankungen | ||||
Diabetes-assoziiert | 80,9 | 50,4 | 44,9 | 20,2 |
Nicht Diabetes-assoziiert | 229,7 | 166,1 | 335,4 | 245,7 |
Atemwegsinfektionen | 174,0 | 97,7 | 172,4 | 96,7 |
Chronische Nierenerkrankungen | 13,0 | 4,9 | 18,0 | 10,1 |
Lebererkrankungen | 18,2 | 6,3 | 25,9 | 8,0 |
Die größte Abnahme der Hospitalisierungsraten verzeichneten die Studienautoren bei den ischämischen Herzerkrankungen (Männer -29 %, Frauen -34,2 %). Für den größten Anstieg der Krankenhauseinweisungen verantwortlich waren dagegen nicht Diabetes-assoziierte Tumorerkrankungen (Männer +40,4%, Frauen +44,2%) und Atemwegs-infektionen (Männer +166,9%, Frauen +192,9 %). Die Variationen in der Trendentwicklung waren im Allgemeinen sowohl zwischen den Altersgruppen als auch zwischen Männern und Frauen ähnlich.
Fazit
Offensichtlich haben sich die Ursachen für eine stationäre Aufnahme verändert, denn die Studien-autoren konnten substanzielle Unterschiede in den Hospitalisierungsraten feststellen. Kranken-hauseinweisungen aufgrund von traditionellen Diabetes-Komplikationen waren zwischen 2003 und 2018 rückläufig. Im Gegensatz dazu mussten Diabetiker mit unspezifischen Komplikationen häufiger stationär aufgenommen werden. Dieser Verschiebung hin zu einem höheren Risiko für Tumore, Erkrankungen der Niere, des Respirationstraktes und der Leber muss im klinischen Alltag Rechnung getragen werden. Vor diesem Hintergrund kommt der Prävention von Diabetes-Kompli-kationen durch eine optimale Stoffwechseleinstellung und -kontrolle nach wie vor ein besonders hoher Stellenwert zu.
Quelle
Pearson-Stuttard J, et al. Trends in leading causes of hospitalisation of adults with diabetes in England from 2003 to 2018: an epidemiological analysis of linked primary care records. Lancet 2021; doi:https://doi.org/10.1016/S2213-8587(21)00288-6