Erste Leitlinie zur Nacht- und Schichtarbeit

Ein Job mit Nacht- und/oder Schichtdienst stellt ein erhöhtes Risiko für gesundheitliche Beschwerden dar. Eine Leitlinie soll bei der Prävention und Arbeitszeitgestaltung helfen.

Wie ein chronischer Jetlag

Nacht- und Schichtarbeit stellen eine besondere Belastung dar. Eine Beschäftigung mit nächtlichen und/oder wechselnden Arbeitsschichten kann eine Disruption der zirkadianen Rhythmik verursachen und sowohl ein Schlafdefizit als auch Schlafstörungen hervorrufen. Das Leben entgegen der inneren Uhr beeinflusst zudem den Stoffwechsel und das Immunsystem. Bemerkbar macht sich eine Disbalance vorrangig als Müdigkeit sowie als verminderte physische und kognitive Leistungsfähigkeit. Darüber hinaus können ernsthafte Gesundheitsprobleme die Folge sein.

Gesundheitsberufe sind neben Industrie und öffentlichem Dienst die Hauptschauplätze für Nacht- und Schichtarbeit. In der Praxis finden sich sowohl permanente Schichtsysteme als auch Wechselschichtsysteme unterschiedlichster Ausprägung: in zwei oder drei Schichten, regelmäßig oder unregelmäßig, mit oder ohne Nacht- und Wochenendarbeit. Seitens des Gesetzgebers ist die damit einhergehende erhöhte Belastung durch den Anspruch auf regelmäßige arbeitsmedizinische Untersuchungen berücksichtigt.

Erste Leitlinie veröffentlicht

Eine neue Leitlinie beschreibt die aktuelle, bestehende Evidenz gesundheitlicher Auswirkungen, Symptome und Erkrankungen als mögliche Folgen von Nacht- und Schichtarbeit auf der Basis von orientierenden und systematischen Literaturauswertungen. Sie entstand federführend durch die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. (DGAUM) in Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen Fachgesellschaften. Die Autoren möchten anhand konkreter Empfehlungen die Bedingungen in der Arbeitspraxis und bei der Schichtplangestaltung verbessern. Die Experten erarbeiteten insgesamt 59 einzelne Empfehlungen zu verschiedenen Themenfeldern, zur Primär, Sekundär- und Tertiärprävention.

Obwohl die Evidenz teilweise gering ist, nennt die Leitlinie folgende in der Literatur beschriebenen möglichen Zusammenhänge mit Nacht- und Schichtarbeit:

  • Schlafstörungen: eingeschränkte Schlafquantität und -qualität, Fatigue, Tagesschläfrigkeit
  • Kardiovaskuläre Erkrankungen: Hypertonie, Gefäßveränderungen
  • Stoffwechselerkrankungen: Diabetes mellitus, Metabolisches Syndrom
  • Gastroenterologische Beschwerden: peptischer Ulcus, funktionelle Darmerkrankungen, gastroösophageale Refluxerkrankung, kolorektales Karzinom
  • Krebserkrankungen: Brustkrebs, Prostatakrebs
  • Psychische Erkrankungen: Depression
  • Neurologische Erkrankungen: Kopfschmerzsyndrome, Migräne

Die Unfallgefahr steigt

Ein Aspekt, der auch unmittelbar Konsequenzen für den Arbeitgeber hat, ist das Unfallrisiko. Dieses ist laut Einzelstudien und Metaanalysen durch die Gestaltung der Schichtarbeit beeinflusst. Vor allem Nachtarbeit, lange Arbeitszeiten über neun Stunden, eine hohe Anzahl aufeinanderfolgender Nachtschichten in rotierenden Schichtsystemen sowie lange Intervalle zwischen den Pausen erhöhen die Gefahr. Sowohl um Unfälle zu vermeiden als auch zur allgemeinen besseren Verträglichkeit empfehlen die Experten in der Leitlinie:

  • Schichten von maximal 8 Stunden
  • Keine ungünstigen Schichtfolgen, z.B. Nachtschicht – frei – Frühschicht – frei – Nachtschicht, keine einzelne Arbeitstage zwischen freien Tagen
  • Schnelle vorwärts rotierende Schichtsysteme: alle zwei bis drei Tage
  • Maximal drei Nachtschichten in Folge
  • Geblockte Freizeiten: mindestens Samstag und Sonntag frei und einmal im Schichtzyklus Freitag bis Sonntag oder Samstag bis Montag frei, ein freier Abend an mindestens einem Wochentag
  • Einhaltung der gesetzlichen Grundlagen und Pausen

Sozialleben und Lebensstil leiden

Die Fachgesellschaften lassen zudem die Work-Life-Balance nicht außer Acht. Sie beschreiben negative Auswirkungen auf das Familien- und Sozialleben. Schon allein weil es aus zeitlichen Gründen nicht möglich ist, sich ausreichend zu erholen und an sozialen Aktivitäten teilzunehmen, können Konflikte in der Familie sowie soziale Isolation und Stress entstehen. Mitsprache bei den Schichtplanungen kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Darüber hinaus ist mit Schichtarbeit oft eine negative Veränderung des Lebensstils verbunden: Die Verknüpfung mit ungünstigen Ernährungsgewohnheiten und vermehrtem Rauchen ist in mehreren Quellen belegt.

Informationen zur Primärprävention

Um schädliche Auswirkungen auf den Schlaf zu reduzieren, empfehlen die Leitlinienautoren Schulungen für Schichtmitarbeiter im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements zum Umgang mit den besonderen Herausforderungen der Schichtarbeit an den Schlaf. Der Arbeitgeber kann beispielsweise evidenzbasierte, selbstwirksame Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie für Ein- und Durchschlafstörungen vorstellen und vermitteln (lassen). Weitere Empfehlungen zur Primärprävention aus medizinischer Sicht sind:

  • Keine Ruhezeiten unter 11 Stunden
  • Möglichst individuelle Schichtpläne mit Berücksichtigung von Rotationsdauer, -richtung und -geschwindigkeit sowie persönlichem Chronotyp, Alter und Anpassungskapazität
  • Einplanung von Kurzschlafepisoden, um die Wachheit und das Leistungsvermögen während Nachtschichten zu erhöhen
  • Schulungen für Schichtarbeiter im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung

Grundsätzlich scheint eine schnelle Vorwärts-Rotation am verträglichsten zu sein. Unregelmäßige, von Tag zu Tag stark schwankende Zeiten und Dauern innerhalb einer Schicht sollten möglichst vermieden werden. Den Schlaf und dessen Erholungsfunktion verbessern können hingegen folgende Planungen: flexible Arbeitszeiten, kontinuierliche Schichten, Schichtdauern bis zu zwölf Stunden bei gleichbleibender Wochenarbeitszeit unter Berücksichtigung adäquater physischer und psychischer Arbeitsbelastungen und die Vermeidung von Früh- bzw. Nachtschicht in Abhängigkeit vom Chronotyp und/oder Alter. Auch wenn an dieser Stelle im Zusammenhang mit einer optimalen Schlaferholung von maximal zwölf Stunden die Rede ist, liegt die Empfehlung zur Unfallvermeidung und allgemeinen besseren Verträglichkeit bei maximal acht Arbeitsstunden (siehe Abschnitt „Die Unfallgefahr steigt“).

Rechtzeitig gegensteuern

Schichtarbeit erhöht das Risiko für insomnische Beschwerden, aber nicht für klinisch definierte Insomnien per se. Wenn der innere Takt aus dem Ruder läuft, kann es helfen, zumindest zeitweise zu Tagschicht oder geeigneten kontinuierlichen Schichten, beispielsweise Spätschicht, zu wechseln. Zur Prävention empfehlen sich:

  • Gezielte Fragen nach Schlafstörungen, verstärkter Tagesschläfrigkeit und/oder Fatigue bei der arbeitsmedizinischen Vorsorge
  • Weiterführende spezifische Diagnostik bei Verdacht auf Schlaf-Wach-Störung
  • Apparative Diagnostik während des Tagesschlafs nach einer Nachtschicht bei klinischem Verdacht auf obstruktives Schlafapnoesyndrom
  • Wechsel in die Tagschicht oder in eine geeignete kontinuierliche Schicht bei bedeutsamen Einschränkungen hinsichtlich Schlafqualität und -dauer sowie moderaten und schweren Insomnien mit entsprechender Beeinträchtigung der Wachbefindlichkeit bis zur Remission

Chronifizierung vermeiden

Damit aus anfänglichen Schlafdefiziten und Beschwerden keine dauerhaften Störungen entstehen, gilt es, frühzeitig zu reagieren, etwa mit:

  • Speziell auf Schichtarbeiter ausgerichteten Maßnahmen, beispielsweise Edukation über eine adäquate Schlafhygiene, bei insomnischen Beschwerden
  • Wechsel in die Tagschicht bei schweren schlafbezogenen Atmungsstörung mit ausprägten komorbiden Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Wechsel in die Tagschicht oder geeignete kontinuierliche Schichten bei schwerem oder schwer behandelbarem Restless-Legs-Syndrom

Notfalls Schichtarbeit ganz aufgeben

In manchen Fällen sehen die Verfasser der Leitlinie jedoch kaum eine andere Möglichkeit als die Nacht- oder Schichtarbeit komplett aufzugeben. Das gilt beispielsweise bei schwerer und/oder schlecht behandelbarer Parasomnie, altersbedingten Schlafstörungen unter dauerhafter Schichtarbeit oder bei schweren schlafbezogenen Atmungsstörungen, wie der Obstruktiven Schlaf-Apnoe und begleitenden schweren Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Personen mit Narkolepsie oder anderen schwerwiegenden Erkrankungen hält die Fachgesellschaft grundsätzlich für ungeeignet für solche Arbeitszeitmodelle.

Quelle

DGAUM (Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin), Leitlinie „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit“