Reizdarmsyndrom – nur nicht die Nerven verlieren

Im Fokus des Heidelberger Web-Kongresses, der am 20. und 21. November 2021 stattfand, standen Erkrankungen des Gastrointestinaltrakts. Unter dem Motto „Wenn Magen und Darm rebellieren“ präsentierte Prof. Dr. med. Stefan Müller-Lissner, Gastroenterologe aus Berlin, Aktuelles aus dem „Reich der Mitte“ zum Thema Reizdarmsyndrom.

Auf die intestinale Sensibilität kommt es an

Viele Reizdarmpatienten haben ein erhöhtes Schmerzempfinden und reagieren auf Dehnungsreize stärker als Menschen ohne Reizdarmsyndrom (RDS). Die Darmbarriere ist beim RDS durchlässiger und wenn infolgedessen Darmflora durch die Darmwand gelangen kann, wird das Immunsystem aktiviert und es können Inflammationen entstehen. Zu diesem Schluss kommen Experimente, in denen Patienten ein Ballon in das untere Kolon gelegt und anschließend aufgeblasen wurde. Neuronale Stimuli verursachten bei Patienten mit RDS eine Hyperalgesie, die in 33 % der Fälle auch noch nach dem Abheilen der Entzündung vorhanden war, so Müller-Lissner.

Bei der Therapie nicht die Nerven verlieren

Ernährung

Die FODMAP(fermentable oligo-, di-, monosaccharides and polyols)-Diät ist laut Müller-Lissner eine erfolgversprechende, aber unattraktive Behandlungsoption, da der Verzicht auf bestimmte Lebensmittel die Lebensqualität beeinträchtigt. Daher halten viele Patienten die Diät oft nur kurze Zeit durch. Patienten können auch eine glutenfreie Ernährung ausprobieren, ein allzu großer Erfolg ist damit allerdings nicht zu erwarten.

Entspannung

In einer Studie, in der RDS-Patienten zehn Muskelentspannungs-Sitzungen über acht Wochen erhielten, zeigten diese weniger Schmerzen und Obstipation. Die Ergebnisse waren statistisch signifikant. Daneben gibt es auch Belege für die Wirksamkeit für Hypnose und Psychotherapie. Entscheidend ist auch, wie achtsam die Patienten sind. Je stärker sie auf Symptome achten, desto mehr Beschwerden werden sie auch bemerken. Im Umkehrschluss nehmen Patienten weniger Symptome wahr, wenn sie abgelenkt sind.

Stuhltransplantationen

Am einfachsten wäre es, Menschen mit RDS mit einer neuen Darmflora von gesunden Spendern auszustatten. Genau das wurde in einer in The Lancet publizierten Studie durchgeführt: Die Probanden erhielten entweder ihren eigenen Stuhl (Placebo-Gruppe) oder Stuhl von gesunden Patienten (RDS-Gruppe). Nach einem Jahr war erstaunlicherweise kein Unterschied mehr in der Symptomschwere von RDS-Patienten und Placebo erkennbar.

Pharmakotherapie

Da ein „Reizdarm“ weder eine einheitliche Erkrankung ist noch eine einheitliche Pathophysiologie aufweist, ist die Therapie, trotz aktualisierter Leitlinien, ausgesprochen schwierig. In Deutschland verfügbare Spasmolytika sind Butylscopolamin und das verschreibungspflichtige Mebeverin, wobei letzteres eher schlecht abschneidet. Butylscopolamin ist immerhin bei einem Teil der RDS-Patienten wirksam und ist damit die erste Wahl. Unter den Phytopharmaka zeigte Pfefferminzöl eine gute Wirksamkeit und kann laut Müller-Lissner als gleichwertige Alternative zu Butylscopolamin gegen Schmerzen eingesetzt werden. Iberis amara hat Effekte auf globale Symptome und Schmerzen. In einer Studie erreichte das Substanzgemisch zwar statistische Signifikanz, allerdings wies Müller-Lissner auch auf die hohe Verbesserungsrate unter Placebo hin. Einen Versuch sei es wert.

Antibiotika & Präbiotika

Eine antibiotische Therapie ist umstritten. Einerseits verhindert der rationale Einsatz die bakterielle Spaltung von Nahrungsbestandteilen. Vor dem Hintergrund, dass das RDS auf manche Nahrungsmittelunverträglichkeiten zurückzuführen ist, erscheint dieser Ansatz sinnvoll. Andererseits gibt es Antibiotika wie Rifaximin, das nicht resorbiert wird und in einer Studie nur minimale Effekte gezeigt hat. Summa sumarum sollten Antibiotika nur in Einzelfällen rational angewendet werden. Probiotika haben – ausschließlich in magensaftresistenter Form – einen geringen Nutzen, nach dem Absetzen verschwindet der Effekt aber wieder. Präbiotika dagegen führen zu einer Änderung der Darmflora, allerdings ist dafür keine Evidenz vorhanden.

Antidepressiva bei Reizdarm?

Antidepressiva greifen in den Serotonin(5-HT)-Stoffwechsel ein und werden in sehr niedriger Dosierung eingesetzt. Im Vergleich zu Spasmolytika ist eine bedarfsgerechte Gabe nicht möglich, da sie für einen kontinuierlichen Effekt mindestens drei Wochen eingenommen werden müssen. Antidepressiva wirken sich unterschiedlich auf die Darm-Transitzeit aus. Während Selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) wie Paroxetin diese nicht beeinflussen, inhibieren Trizyklika die Motilität. Daher können letztere sinnvollerweise bei RDS-Patienten mit dominierender Diarrhö eingesetzt werden.

Quelle

Müller-Lissner, Wenn der Darm die Nerven verliert – das Reizdarmsyndrom, 44. Heidelberger Web-Kongress der LAK BW vom 20. bis 21. November 2021