In den letzten Monaten nimmt Adipositas unter Kindern zu. In einer gemeinsamen Pressemitteilung mahnen die AG Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) und die wissenschaftliche Fachgesellschaft der Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland (DGKJ), dass das Thema Adipositas bei Kindern längst auf die Agenda der Gesundheitspolitik gehöre.
„Schleichend, aber stetig“
Zwei Millionen Kinder in Deutschland sind übergewichtig, davon 800.000 adipös und in den letzten Monaten nimmt Adipositas unter Kindern zu, schreiben AGA/DAG und DGKJ in einer Pressemitteilung vom 21. Juni 2021.
Susann Weihrauch-Blüher, Halle, zufolge wurden in den Spezialsprechstunden Gewichtszunahmen von bis zu 30 Kilo in 6 Monaten dokumentiert. Das seien zwar Einzelfälle, doch „Rekorde“ dieser Art mehren sich. „Es gibt bei Kindern einen derart klaren Anstieg an Adipositas während der coronabedingten Lockdowns, dass wir hier von einer […] ’stillen Pandemie‘ sprechen“, so Weihrauch-Blüher.
Zudem beobachte man bei Jugendlichen eine deutliche Zunahme der Neumanifestationen von Typ-2-Diabetes: In den ambulanten Adipositas-Zentren der Kinderklinik Halle und des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) der Charité Universitätsmedizin Berlin gebe es im Vergleich zum Vorjahr bisher ca. dreimal so viele neue Typ-2-Diabetes-Fälle bei Jugendlichen mit extremer Adipositas.
Die durch Corona eingeschränkten Bewegungs- und Sportmöglichkeiten, ein hoher Medienkonsum und fehlende Strukturen in Tagesablauf und Sozialleben werden gern als Ursache angeführt. Der Beginn reiche jedoch weiter zurück als die Corona-Pandemie, so DAG-Vizepräsidentin Susanna Wiegand, Berlin. Schon seit Jahren verlieren ihr zufolge auch normalgewichtige Kinder Muskelmasse und bauen Körperfett auf.
Wie sich der Trend unter der Corona-Pandemie fortsetzt, wird man vermutlich mit der nächsten Auswertung der Daten der WHO European Childhood Obesity Surveillance Initiative (COSI) sehen können – der Bericht 2021 umfasst die Jahre 2015 bis 2017.
Angebote für Betroffene sind dringend nötig
Was bedeutet das für betroffene Kinder und Jugendliche? Die Lebensqualität ist eingeschränkt und es finden sich bei ihnen zunehmend Erkrankungen, die man eigentlich erst von Erwachsenen kennt, darunter Typ-2-Diabetes oder eine Fettleber. Die Anzahl der von Typ-2-Diabetes betroffenen Jugendlichen wird in Deutschland derzeit auf ca. 1.000 geschätzt, doch die Dunkelziffer ist höher und seit Beginn der Corona-Pandemie mit großer Wahrscheinlichkeit angestiegen.
Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren, die eine Adipositas mit einem BMI oberhalb der 97. Perzentile aufweisen, haben zudem ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf von COVID-19. Die STIKO hat für diese Gruppe eine Indikationsimpfempfehlung zur Corona-Impfung ausgesprochen (PDF).
Doch die Kostenübernahme von ambulanten evidenzbasierten und leitliniengetreuen Adipositas-Schulungsmaßnahmen sei noch immer nicht gesichert, kritisierte Wiegand. Während bei Erwachsenen Adipositas inzwischen als chronische Erkrankung gilt, ist dies bei Kindern nicht der Fall. Diese Anerkennung wäre der AGA zufolge jedoch wichtig, um gezielte Schulungs- und Präventionsmaßnahmen anbieten zu können.
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Jörg Dötsch, Köln, fordert verpflichtende und klare Lebensmittelkennzeichnungen, Verbote für Dickmacher-Werbung, die speziell an Kinder gerichtet ist und eine gut strukturierte Vermittlung von Ernährungskompetenz schon von der Kita an. Dafür brauche es dringend „mutige Maßnahmen der Politik“, so die Experten.