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Adipositas – Herausforderung für Medizin und Gesellschaft

Das nächste MMP-Web-Seminar zum Thema „Adipositas – Herausforderung für Medizin und Gesellschaft“ steht vor der Tür. Das Web-Seminar findet am 5. Februar um 20 Uhr statt. Kostenlos anmelden können Sie sich hier.
Wir haben den Referenten Dr. med. Daniel Gärtner, Leiter des Adipositaszentrums Karlsruhe, vorab interviewt.

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Dr. med. Daniel Gärtner

Sie sind Leiter des Adipositaszentrums Karlsruhe. Wie viele Patienten werden pro Jahr bei Ihnen behandelt? Wie lange kämpfen die Patienten in der Regel mit einer Adipositas, bevor sie zu Ihnen kommen bzw. vom Hausarzt überwiesen werden?

Wir haben pro Monat ca. 30 Patienten zur Erstvorstellung und führen aktuell mehr als 200 operative Eingriffe im Jahr durch.

In der Regel haben die Patienten eine Vorgeschichte von mehr als zehn Jahren mit unterschiedlichsten ambulanten oder stationären Abnehmversuchen.

In den letzten Jahrzehnten ist der durchschnittliche BMI der deutschen Bevölkerung vom Normal- zum Übergewicht gestiegen. Welche Maßnahmen könnten Ihrer Meinung nach diesen Trend durchbrechen?

Meiner Ansicht nach wäre das wichtigste Ziel, die Adipositas erst einmal als echte Krankheit anzuerkennen. Zu ausgeprägt sind Vorurteile gegenüber dieser Erkrankung, viel zu oft wird sie als einfaches Lifestyle-Problem abgetan und der Patient sich selbst überlassen und ein mangelnder Therapieerfolg als selbstverschuldet angesehen. Ernährungstherapie und Adipositasbehandlung gehören in professionelle Hände und nicht in die „Klatschpresse“, da viele dieser sogenannten Diäten nicht nur keinen Langzeiterfolg bringen, sondern aufgrund des Jojoeffekts sogar schädlich für den Stoffwechsel sein können.

Halten Sie Maßnahmen wie die „Zuckersteuer“ oder gesetzlich verordnete Zuckerreduktion in Lebensmitteln, wie die Deutsche Adipositas-Gesellschaft es fordert, für erfolgversprechend in der Bekämpfung der Adipositas?

Eine „Zuckersteuer“ wäre sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Unsere Gesellschaft funktioniert in vielerlei Hinsicht einfach oft über den Geldbeutel. Gute Nahrungsmittel mit wenig(er) Zucker zu produzieren ist ja möglich, der Anreiz dazu bleibt bei entsprechend niedrigen Rohstoffkosten natürlich aus. Eine Selbstverpflichtung der Nahrungsmittelindustrie bringt in meinen Augen nichts als leere Versprechungen. Auch die Zuckerersatzstoffe haben sich bisher nicht als der große Wurf gezeigt. Sicherlich wäre es auch wünschenswert, in einer Konsumwelt wie der unsrigen, die Wahrnehmung und auch Wertschätzung des Essens am besten schon in den Kitas, Kindergärten und Grundschulen zu fördern. Billige, überall und zu jeder Zeit verfügbare Nahrung ist ein Problem in unserer Gesellschaft. Viele Menschen können zwischen Appetit und Hunger gar nicht mehr unterscheiden. Insgesamt muss daher vielmehr in die Prävention von Adipositas investiert werden. Die vorhandenen Therapeuten werden der Anzahl an Erkrankten schon in absehbarer Zeit nicht mehr gerecht werden können, wenn dies nicht vielleicht heute schon der Fall ist.

Welche Maßnahmen führen Ihrer Erfahrung nach zur nachhaltigsten, sprich anhaltenden, Gewichtsreduktion bei Adipositas-Patienten?

Grundsätzlich helfen nur Maßnahmen, die dauerhaft beibehalten werden können. Eine Diät und das Runterhungern von einigen Kilogramm, mit anschließender Rückkehr zur alten Gewohnheit führt langfristig nicht zum Ziel. Wichtig ist es hier rechtzeitig mit den Maßnahmen zu beginnen und genau hinzuschauen, was ein Patient in seinem Alltag überhaupt leisten kann und welche Ziele für ihn realistisch sind.

Wenn Modifikationen im Essverhalten und im Lebensstil notwendig sind, müssen diese langsam und schrittweise, dafür aber dauerhaft umgesetzt werden. Es ist ein bisschen wie im Ausdauersport, wenn sie aufhören mit dem Training, lässt die Fitness nach einer gewissen Zeit einfach nach, egal wie gut sie waren. Ab einen BMI von 40 kg/m2 ist eine Operation meist die einzige noch sinnvolle Therapie, um einen langfristigen Erfolg zu erzielen.

Gibt es Maßnahmen zum Management der Adipositas außer der bariatrischen Chirurgie, die von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden?

Grundsätzlich ja, leider gibt es hiervon noch immer zu wenige. Die Ernährungstherapie wird von der Krankenkasse bedauerlicherweise nur unterstützt und der Patient muss einen nicht unerheblichen Teil der Kosten selbst bezahlen. Dies ist eine große Hemmschwelle für eine langfristige Therapie, denn eine professionelle, verhaltenstherapeutisch orientierte Ernährungstherapie hat einfach seinen Preis, benötigt eine gewisse Zeit von mindestens sechs bis zwölf Monate und muss unter Umständen immer wieder aufgefrischt werden.

Die Verhaltenstherapie wird grundsätzlich auch von der Krankenkasse finanziert, jedoch scheitert es hier sehr oft an den nicht verfügbaren Therapieplätzen. Außerdem stellt man im Alltag leider immer wieder fest, dass das Interesse der Psychotherapeuten an der Adipositastherapie nicht übermäßig groß ist, sodass vielen Patienten monatelange Wartezeiten haben und zig Praxen anrufen müssen, um überhaupt jemanden zu finden. Außerdem gibt es auch stationäre Einrichtungen, in der Regel in Form von Rehakliniken, die auch stationäre Therapien anbieten, jedoch ist auch oft die Kostenübernahme ein Problem (Krankenkasse oder Rentenversicherung).

Nach wie vor wird Adipositas häufig als selbstverschuldetet angesehen. Was könnte dazu beitragen, dass Allgemeinbevölkerung und Politik Adipositas als Krankheit verstehen?

Hier hilft nur eins: Aufklärung! Die Politik hat es versäumt, sich rechtzeitig für diese Erkrankung und vor allem für deren Ruf einzusetzen. Leider haben auch viele Mediziner aktiv zur Stigmatisierung der Adipositaspatienten und auch der Adipositastherapie beigetragen. Das Thema Ernährung und Ernährungsmedizin hat keinen nennenswerten Stellenwert im Studium. Sie lernen als Student jede Folgeerkrankung der Adipositas besser zu behandeln, als das zugrundeliegende Problem. Viele Hausärzte geben den Patienten den Rat, sie sollen weniger essen und sich mehr bewegen. Beides ist ja grundsätzlich richtig, führt jedoch bei dieser chronischen Erkrankung meist nicht zum Ziel, wenn man die Patienten damit allein lässt. Außerdem blicken wir auf eine jahrzehntelange Phase zurück, in der die richtige Therapie oft auch am MDK gescheitert ist. Viel zu oft hat der Wohnort und das Bundesland, in dem der Patient lebt, darüber entschieden, ob er eine Operation bekommen hat oder nicht. Unzählige Patienten mussten sich ihre Operation sogar gerichtlich erstreiten. Dies ist angesichts vorliegenden Evidenz beschämend für unser Gesundheitssystem.

An welche Stellen können sich betroffenen Patienten oder Angehörige, abgesehen vom Hausarzt, wenden, um Hilfe zu erhalten?

Am besten wenden sie sich an ein interdisziplinäres Adipositaszentrum. Bei der Abklärung und der Therapie müssen viele verschiedene Fachbereiche zusammenarbeiten und sich austauschen, sowohl bei der konservativen als auch bei der operativen Therapie. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) hat ein dreistufiges Zertifizierungsverfahren eingeführt um einen Schritt in die Richtung Qualitätsstandards der Therapie zu gehen. Da die Hemmschwelle oft sehr hoch ist, haben wir schon vor Jahren eine unverbindliche, monatliche Veranstaltung für Patienten, Angehörige oder einfach Interessierte eingeführt. Hier wird in etwa einer Stunde die Adipositas und deren Therapie laienverständlich dargestellt und es bleibt genug Zeit Fragen zu stellen. Im Anschluss kann sich der Patient auf Wunsch dann an die entsprechenden Kontaktadressen wenden und in die Therapie einsteigen. Als Therapiegrundlage gibt es aktuell sowohl von der Deutschen Adipositas-Gesellschaft als auch von der DGAV je eine S3-Leitlinie.

Herr Dr. Gärtner, wie danken Ihnen für dieses Gespräch.