„Die Geschmackspräferenz des Patienten sollte im Vordergrund stehen“

Mangelernährung ist ein wichtiges Thema in der Onkologie. Auf dem pharmazeutischen eKongress der diesjährigen Interpharm, die vom 5. bis 8. Mai 2021 stattfand, berichtete der Ernährungsexperte Prof. Dr. Martin Smollich über die Herausforderungen, die mit einer Tumorkachexie einhergehen.

Tumorkachexie verschlechtert Gesamtprognose

Bei der Tumorkachexie liegt eine katabole Stoffwechsellage mit systemischer Entzündung vor. Damit geht oft eine zunehmende „ Verbraunung“ des weißen Fettgewebes einher. Braunes Fettgewebe ist jedoch hormonell sehr aktiv.

Typische Anzeichen einer Tumorkachexie sind ungewollter Gewichtsverlust, Appetitmangel, Fatigue sowie ein Verlust an Muskelmasse. Die Lebensqualität leidet zunehmend. Definitionsgemäß beträgt der ungewollte Gewichtsverlust > 5 % in den letzten sechs Monaten. Zusätzlich liegt eine Inflammation, Proteinkatabolismus und/oder Sarkopenie vor.

„Die Appetitlosigkeit ist Folge, nicht Ursache der Kachexie“

Schätzungsweise stirbt ein Viertel bis ein Drittel der Krebspatienten an den Folgen der Kachexie. Vor allem Patienten mit gastrointestinalen Tumoren sind Kachexie-gefährdet. Professor Smollich, Lübeck, betonte daher in seinem Vortrag, wie wichtig eine frühzeitige Diagnose und Therapie sind. Ein häufiger ernährungsmedizinischer Fehler in der Onkologie sei Smollich zufolge, dass am Anfang zu wenig und am Ende zu viel gemacht werde. Doch alle Krebspatienten sollten möglichst frühzeitig  – unabhängig vom Ausgang-BMI oder vom Körpergewicht – ein professionelles ernährungsmedizinisches Screening erhalten. Das Screening soll zudem regelmäßig wiederholt werden.

Weisen Sie Patienten und Ärzte auf die „Ärztliche Notwendigkeitsbescheinigung zur Ernährungstherapie“ hin.

Zum Zeitpunkt der Krebsdiagnose liegt bei vielen Patienten bereits eine (Prä-)Kachexie vor. Eine vollständige Prävention ist bisher nicht möglich. Wichtig zu wissen ist, dass nicht immer (nur) eine Tumorkachexie die Ursache für einen Gewichtsverlust sein muss.

Neben der Ursachensuche bedarf es einer individuellen Ernährungsberatung – Trinknahrung ohne individuelle und professionelle Ernährungsberatung bringt nicht die gewünschten Effekte.

Smollich führte in seinem Vortrag aus, wie wichtig es sei, vermeidbare Ursachen der Mangelernährung zu beheben: Diese reichen von Schluckstörungen, Soor oder einer schlecht sitzenden Zahnprothese über Angst vor Stuhlinkontinenz nach dem Essen, bis hin zur Art und Weise, wie das Essen präsentiert wird.

Stufenmodell

  • Stufe 1: Evaluation und konsequente Therapie der individuellen Ursachen
  • Stufe 2: Ernährungsmodifikation, Ernährungsberatung, intensivierte Betreuung, individuelle Wunschkost, etablierte Allgemeinmaßnahmen, Einsatz von Hilfsmitteln
  • Stufe 3: Anreicherung der Nahrung (z.B. Eiweißkonzentrate, Maltodextrin, …)
  • Stufe 4: Trink-, Zusatznahrung (Getränke, Joghurt, Suppen, etc.)
  • Stufe 5: supportive künstliche enterale Ernährung (PEG/PEJ-Sonde)
  • Stufe 6: supportive künstliche parenterale Ernährung (Broviac, Hickman, Port)

 

„Zu gesund essen wollen“ ist ein Fehler

Oft führen „Krebsdiäten“ dazu, dass Patienten zu wenig essen. „Den Krebs aushungern“ hat sich in vielen Köpfen festgesetzt – auch bei manchem Heilpraktiker. Doch bevor der Tumor ausgehungert wird, verhungere der Patient, so Smollich. Es müsse nicht komplett auf Kohlenhydrate verzichtet werden. Wichtig ist jedoch in erster Linie eine fettreiche Ernährung. Hier spielen vor allem hochwertige pflanzliche Fette eine wichtige Rolle. Doch im Vordergrund sollte die Geschmackspräferenz des Patienten stehen: Wenn jemand Oliven- oder Leinöl nicht mag, sollte man ihn nicht zwingen – man könne genauso gut etwas „Sahne unters Essen rühren“.

Pharmakotherapeutische Ansätze Mangelware?

Wundermittel gegen eine Tumorkachexie findet man nicht unter den gängigen Pharmakotherapeutika und auch aus der Pipeline wird Smollich zufolge in der nächsten Zeit nicht viel kommen. Derzeit laufen Studien zu TNF-alfa- oder Interleukin-6- sowie COX-Hemmern, zu THC-Analoga (Nabilon) und zum Ghrelin-System (Anamorelin), wobei Anamorelin die Zulassung in Europa versagt wurde.

Verbessern kann man jedoch die Lebensqualität betroffener Patienten. In der ESPEN-Leitlinie haben die verschiedenen Wirkstoffgruppen jeweils „Kann“-Empfehlungscharakter.

  • Vor allem kurzfristig – etwa, wenn ein Patient gerne an einer ihm wichtigen Familienfeier teilnehmen möchte – können Glucocorticoide helfen. Sie haben jedoch keinen Effekt auf die Progression der Kachexie.
  • Progesterone regen den Appetit an, können jedoch ebenso wie Dexamethason und Co. zu Muskelatrophie führen.
  • Eine effektive Schmerztherapie kann zudem indirekt zu mehr Appetit führen. Das gilt ebenso für die Behandlung  von Übelkeit/Erbrechen, Stomatitis, Obstipation/Diarrhö, Dysmotilität, Gastroparese, Angst und Depression.

Fazit

Eine individuelle Ernährungstherapie ist essentiell für Krebspatienten. Sie heilt zwar keinen Krebs, aber sie kann Komplikationen reduzieren und die Lebensqualität und die Gesamtprognose verbessern.

Zum Weiterlesen: Qualifizierte Ernährungstherapeuten

  • Verband der Diätassistenten – Deutscher Bundesverband e.V. (VDD), www.vdd.de
  • BerufsVerband Oecotrophologie e. V. (VDOE), www.vdoe.de
  • Verband für Ernährung und Diätetik e.V. (VFED), www.vfed.de
  • Deutsche Gesellschaft der qualifizierten Ernährungstherapeuten und Ernährungsberater e.V., www.queteb.de
  • Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE), www.dge.de

Quelle

Prof. Dr. Martin Smollich, Tumorkachexie – Was tun bei krebsbedingter Mangelernährung? Vortrag auf der Interpharm 2021, 7. Mai 2021, veranstaltet von der Mediengruppe Deutscher Apotheker Verlag