Die Ärzte in Omsk hatten eine Vergiftung ausgeschlossen. In Deutschland wurde jedoch eine Vergiftung mit einem Cholinesterase-Hemmer diagnostiziert und ein Kampfstoff nachgewiesen. Eine aktuelle Kasuistik im Lancet gibt auch Hinweise auf die Therapie in Russland.
Kasuistik im Fall Nawalny
10 Minuten nach seinem Abflug übergab sich der 44-Jährige und verlor das Bewusstsein. Nach einer Notlandung lieferten ihn Rettungskräfte zwei Stunden nach Beginn der Symptome in ein Krankenhaus der Stadt Omsk ein. 55 Stunden nach Symptombeginn erreichte Nawalny die Charité in Berlin, wohin er auf Wunsch seiner Familie überführt wurde. Die medikamentöse Therapie bei Übergabe des Patienten an das deutsche Team bestand lediglich aus Propofol. In den Blut- und Urinproben, die bei der Ankunft in der Charité erhoben wurden, zeigten sich aber auch verschiedene andere Arzneimittel, darunter Atropin.
Symptome beim Eintreffen in die Charité:
- Tief komatös
- Leichte Bradykardie (51 Schläge/min sinkend auf 33)
- Hypersalivation
- Gesteigerte Diaphorese
- Kleine Pupillen, keine Reaktion auf Licht
- Verminderte Reflexe des Hirnstamms
- Verstärkte tiefe Sehnenreflexe
- Pyramidenbahnzeichen
Die Laborergebnisse zeigten eine verminderte Konzentration von Butyrylcholinesterase und gesteigerte Konzentrationen von Amylase, Lipase, hoch-sensitivem Troponin T sowie Natrium.
Die Aktivität der Butyrylcholinesterase-Aktivität dient normalerweise zur Einschätzung der Leberfunktion. In diesem Fall bestätigte der Test jedoch die Vergiftung mit einem Phosphorsäureester. Der Nachweis eines Nowitschok-Kampfstoffes beziehungsweise seiner Metabolite erfolgte erst einige Tage später und hatte keinen Einfluss auf die Therapie.
Die deutschen Ärzte behandelten die Vergiftung mit Atropin und Obidoxim, worauf sich die cholinergen Symptome schnell besserten.
Cholinergic signs returned to normal within 1 h after the onset of this antidotal therapy.
Der Patient wurde weiterhin intensivmedizinisch behandelt und erhielt unter anderem Sufentanil, Propofol und Midazolam. Das Obidoxim setzten die Ärzte nach einem Tag wieder ab, da es die Aktivität der Acetylcholinesterase nicht wiederherstellen konnte.
Der Patient begann an Tag 12 spontan zu atmen und konnte bis Tag 24 vollständig entwöhnt werden. Bei Entlassung an Tag 33 zeigte der Patient noch leichte neurologische Einschränkungen. Bei der letzen Nachbeobachtung an Tag 55 hatte sich der Patient fast vollständig erholt.
Kommentar
Vergiftungen mit Phosphorsäureestern sind in Deutschland deutlich seltener geworden, nachdem die entsprechenden Insektizide stärker reguliert wurden. In Asien sind Phosphorsäureester jedoch für mehr als 100.000 Todesfälle pro Jahr verantwortlich. Die Symptome einer solchen Vergiftung sind also bekannt.
Die Symptome Nawalnys sprechen ganz klar für eine cholinerge Überaktivität. Die Blut- und Urinproben beweisen, dass er daraufhin Atropin erhalten hat. In Deutschland führte das zu einer deutlichen Besserung des Zustands. Warum die Therapie in Russland nicht fortgeführt wurde, lässt sich medizinisch kaum erklären.
Die genaue Identifikation eines reaktiven Kampfstoffs im Körper ist nicht trivial. Die Bestimmung der Butyrylcholinesterase-Aktivität ist jedoch weit verbreitet und verfügbar. Damit hätten die russischen Ärzte die Vergiftung feststellen können.
So unfassbar es klingt: Ich kann nur zu dem Schluss kommen, dass die behandelnden Ärzte in Omsk auf politischen Druck hin dem Patienten eine potenziell lebensrettende Diagnose und Therapie verweigerten.
Quelle
Steindl D et al., Novichok nerve agent poisoning. The Lancet 2020. Published online December 23, 2020. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32644-1.
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