In Deutschland sind etwa zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen übergewichtig, Tendenz steigend. Der Leidensdruck der Betroffenen ist hoch, und ihre Chancen sind gering, ohne therapeutische Unterstützung Gewicht zu reduzieren. Doch der Zugang zu einer Therapie ist für diese Patienten schwierig. Ein Grund hierfür ist das Fehlen klarer Regelungen zur Kostenerstattung. Professor Matthias Blüher, Präsident der Deutschen Adipositas Gesellschaft, fordert Maßnahmen, um die Versorgung von Adipositas-Patienten zu verbessern.

Ist Adipositas eine Krankheit?
Ja, denn Adipositas erfüllt viele Kriterien des Krankheitsbegriffs: Es ist schwer, sich gegen Adipositas zu wehren, die Betroffenen sind meistens in ihrer Lebensqualität eingeschränkt und haben ein subjektives Krankheitsgefühl. Zudem geht starkes Übergewicht mit zahlreichen Folgeerkrankungen einher, von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen über Krankheiten des Bewegungsapparats bis hin zu Krebs.
Wie sieht die optimale Therapiestrategie für einen adipösen Patienten aus?
Die leitliniengerechte Adipositastherapie folgt einem Stufenplan. Zuerst wird versucht, mit Ernährungsberatung und Empfehlungen zu vermehrter körperlicher Aktivität eine Gewichtsreduktion zu erreichen. Die zweite Stufe sind sogenannte Formuladiäten. Wenn sich die individuellen Therapieziele auf diesen Wegen nicht erreichen lassen, kann man über eine medikamentöse Therapie nachdenken. Und der letzte Schritt ist dann ein chirurgischer Eingriff.
Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass ein Patient leitliniengemäß therapiert wird?
Das Hauptproblem ist, dass entsprechende Versorgungsstrukturen in Deutschland derzeit nicht existieren. Es gibt keinen Adipositas-Spezialisten, sodass der Zugang zur Therapie für die Patienten erschwert ist. Eine große Verantwortung liegt bei den Hausärzten. Auch wenn sich einige sehr gut mit Adipositas-Patienten auskennen, lässt sich grundsätzlich sagen, dass eine Versorgungslücke besteht. Diese Lücke tut sich vor allem deshalb auf, weil die Adipositas im Sinne der gesetzlichen Krankenkassen und der Erstattungsfähigkeit nicht als Krankheit anerkannt ist, und somit der Arzt letztendlich auch nicht unbedingt zuständig ist.
Was sind Ihre Forderungen an die Politik?
Wir fordern seit Längerem einen Nationalen Aktionsplan Adipositas, eine Verbesserung der Versorgungsstruktur und ein System, das Leistungen der Adipositastherapie im Katalog der gesetzlichen Krankenkassen abbildet. Im Koalitionsvertrag wurde schon ein erster Schritt getan, vor allem im Bereich der Prävention im Kindes- und Jugendalter, sodass wir Hoffnung haben, dass unsere Stimme gehört wurde.
Was sind die Kernelemente des von der Deutschen Adipositas Gesellschaft geforderten Nationalen Adipositas-Plans?
Dieser Plan hat viele Facetten, zum Beispiel die Einbeziehung der Fachgesellschaft in die gesundheits- und wissenschaftspolitischen Entscheidungsprozesse sowie strukturierte und überprüfbare Maßnahmen zur Versorgung adipöser Menschen. Wir fordern zudem Maßnahmen zur Verhältnisprävention, zum Beispiel eine stärkere Besteuerung adipogener Lebensmittel. Hier befinden wir uns im Einklang mit der Deutschen Allianz für nichtübertragbare Krankheiten und der Deutschen Diabetes Gesellschaft.
Nach wie vor denkt der überwiegende Teil der Bevölkerung, Adipositas sei selbstverschuldet. Welche Maßnahmen könnten dazu beitragen, der Stigmatisierung adipöser Patienten entgegenzuwirken?
Ein großes Problem ist die fehlende Aufklärung. Wünschenswert wären Kampagnen, z.B. der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die über Ursachen, Folgen und Therapiemöglichkeiten der Adipositas informieren.
Herr Professor Blüher, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Mehr zum Thema Adipositas erfahren Sie in der März-Ausgabe der MMP. Im Beitrag „Adipositas – Herausforderung für Medizin und Gesellschaft“ erläutert Dr. Daniel Gärtner vom Adipositaszentrum des Städtischen Klinikums Karlsruhe unter anderem die Möglichkeiten der Adipositaschirurgie.