Erhöhtes Demenzrisiko bei chronisch Kranken

Kognitive Einbußen durch chronische Erkrankungen – so lautet das Ergebnis der Whitehall II-Studie. Multimorbidität beeinflusst neuesten Erkenntnissen zufolge nicht nur die Lebensqualität, sondern auch das Demenzrisiko. Dabei scheinen vor allem der Erkrankungszeitpunkt und der Schweregrad chronischer Erkrankungen eine entscheidende Rolle zu spielen.

Wenn der Kopf im Alter streikt

Die gestiegene Lebenserwartung hat bei Weitem nicht nur Vorteile: Neben einer Vielzahl multimorbider Patienten (≥ 2 chronische Erkrankungen) ruft dieser Anstieg auch eine weltweit steigende Demenzrate hervor, die sich vor allem jenseits des 65. Lebensjahrs bemerkbar macht. Die Ergebnisse bisheriger Studien implizieren einen Zusammenhang zwischen Multimorbidität und Demenz-Inzidenz. Letztere war dabei umso höher, je früher der Krankheitsbeginn war. Ist Multimorbidität ein Risikofaktor für die Demenzentwicklung im höheren Lebensalter? Und wenn ja, wie beeinflussen chronische Erkrankungen dieses Risiko? Um diese Fragen zu beantworten, initiierten die Autoren die Whitehall II-Studie.

Die Whitehall II-Studie

In der prospektiven Kohortenstudie aus London, die bereits im Jahr 1985 initiiert wurde, evaluierten die Autoren über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren, ob die Dauer und Schwere der Multimorbidität zu einem frühen Erkrankungszeitpunkt das Demenzrisiko im fortgeschrittenen Lebensalter erhöht. Multimorbidität war definiert als das Vorhandensein von mindestens zwei der 13 vordefinierten chronischen Erkrankungen (außer Demenz), die in der Allgemeinbevölkerung weit verbreitet sind. Dazu gehörten:

  • Herzerkrankungen: Herzinsuffizienz, Koronare Herzerkrankung (KHK)
  • Schlaganfall
  • Diabetes mellitus
  • Hypertonie
  • Tumorerkrankungen
  • Chronische Nierenerkrankungen (CKD)
  • Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD)
  • Lebererkrankungen (Alkoholleber, chronische Hepatitiden, Leberversagen, Fibrose, Zirrhose)
  • Depression
  • psychische Störungen (Schizophrenie, Persönlichkeits-, Verhaltens- und Angststörungen)
  • Morbus Parkinson
  • Rheumatoide Arthritis

Primäre Endpunkte waren die Demenz-Inzidenz, der Zeitpunkt, zu dem die Patienten chronisch erkrankten, sowie die daraus resultierende Mortalität. Dazu rekrutierten die Autoren 10.095 berufstätige Teilnehmer im Alter von 35 bis 55 Jahren. Etwa alle fünf Jahre wurden im Rahmen des Follow-ups klinische Untersuchungen durchgeführt, um das Demenzrisiko regelmäßig im Alter von 55, 60, 65 und 70 Jahren zu evaluieren. Um den Schweregrad der Multimorbidität zu bestimmen, unterteilten die Autoren die Teilnehmer weiter in Kategorien, die die Anzahl chronischer Erkrankungen (0 bis ≥ 3) umfassten. Außerdem wurden soziodemografische Faktoren (Alter, Geschlecht, Bildungsstand) und das individuelle Gesundheitsverhalten (Alkoholkonsum, körperliche Aktivität, Rauchverhalten) berücksichtigt.

Ergebnisse

Multimorbidität

Obwohl sich die Prävalenz aller chronischen Erkrankungen mit steigendem Lebensalter erhöhte, zeigten einige davon (z. B. Diabetes mellitus) einen stetigen Anstieg und andere (z. B. CKD, COPD) wiederum einen deutlich schnelleren Anstieg zwischen dem 65. und 70. Lebensjahr. Bei den 55-jährigen Probanden hatten 63 % (noch) keine chronischen Erkrankungen. Im Gegensatz dazu waren es bei den 70-Jährigen bereits 29,8 %. Mit steigendem Alter nahm die Multimorbiditäts-Prävalenz jedoch zu. Diese betrug 6,6 % bei den 55-Jährigen, im Alter von 70 Jahren lag sie mit 31,7 % etwa fünffach höher.

Demenzrisiko

Während des medianen Follow-ups von 31,7 Jahren traten insgesamt 639 Demenzfälle auf. Der Zusammenhang zwischen Multimorbidität und Demenzrisiko war bereits bei den 55-Jährigen erkennbar: Wurden die Patienten vor ihrem 55. Lebensjahr multimorbide, war die Demenz-Inzidenz zehn Jahre später um den Faktor 3,86 höher (1,80–6,52 pro 1000 Personenjahre; Hazard-Ratio [HR] 2,46; 1,80–3,26). Setzte die Multimorbidität erst zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr ein, war das Demenzrisiko dagegen nur um den Faktor 1,85 erhöht (0,64–3,39 pro 1000 Personenjahre).

Dauer und Schweregrad chronischer Erkrankungen

Hinzu kam, dass die Dauer und der Schweregrad chronischer Erkrankungen im Alter von 55 Jahren mit einer 5,22-mal höheren Demenz-Inzidenz pro 1000 Personenjahre (1,14–11,95; HR 4,96; 2,54–9,67) assoziiert war. Die gleiche Analyse im Alter von 70 Jahren ergab eine um 4,49 höhere Demenz-Inzidenz pro 1000 Personenjahre (2,33–7,19).

Häufigste chronische Erkrankungen unter Demenz-Patienten

Insbesondere Hypertonie, gefolgt von KHK, Depression und Diabetes mellitus führten die Liste der häufigen Erkrankungen bei den Demenz-Patienten an. Die individuelle Analyse der jeweiligen Krankheitsbilder ergab, dass Tumorerkrankungen nicht mit Demenz assoziiert waren (HR 1,06, 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,85–1,31). Für psychische Störungen zusammen mit Morbus Parkinson ermittelten die Autoren die höchste HR (13,51) im Alter von 60 Jahren. Zehn Jahre später lag die HR bei Patienten mit psychischen Störungen aber deutlich niedriger (2,05). Aber auch bei anderen chronischen Erkrankungen (Herzinsuffizienz, Schlaganfall, Diabetes mellitus, COPD und psychischen Störungen) nahm das Demenzrisiko ab, je älter die Patienten zum Erkrankungszeitpunkt waren. Bei der Kombination aus Depression und Demenzrisiko zeigte sich jedoch genau das Gegenteil.

Auf den Erkrankungszeitpunkt und den Schweregrad kommt es an

Der Multimorbiditätsvergleich der verschiedenen Altersgruppen (60 ,65 ,70 Jahre) ergab, dass das Demenzrisiko im fortgeschrittenen Alter umso höher war,

  • je früher die Patienten multimorbide wurden (p<0,001)
  • an je mehr chronischen Erkrankungen ein Teilnehmer litt
  • je stärker der Multimorbiditäts-Schweregrad (0 bis ≥3 chronische Erkrankungen) ausgeprägt war

Im Vergleich zu Teilnehmern ohne oder nur einer chronischen Erkrankung hatten diejenigen mit drei oder mehr chronischen Krankheiten im Alter von 55 Jahren ein nahezu fünffach höheres Demenzrisiko. Wenn die Patienten erst mit 70 Jahren multimorbide wurden, war es dagegen nur 1,7-fach erhöht.

Prävention chronischer Erkrankungen = Demenzprävention

Da sich eine Demenzprävention schwierig gestaltet und zudem effektive, langfristige Therapieoptionen fehlen, rückt die Prävention chronischer Erkrankungen in den Fokus. Aus diesem Grund sollte der Multimorbiditätsbeginn so weit wie möglich verzögert werden, da ein früher Erkrankungszeitpunkt mit einem erhöhten Demenzrisiko verbunden ist.

Quellen

  • Hassen CB, et al. Association between age at onset of multimorbidity and incidence of dementia: 30 year follow-up in Whitehall II prospective cohort study. BMJ 2022; 376:e068005.
  • Grande G, et al. Multimorbidity burden and dementia risk in older adults: The role of inflammation and genetics. Alzheimers Dement 2021;17:768-76. doi:1002/alz.12237pmid:33403740