Eine aktuelle Studie ergab, dass typische Long-COVID-Symptome nicht nur nach einer SARS-CoV-2-Infektion auftreten, sondern bereits durch die Überzeugung ausgelöst werden können, eine Infektion durchgemacht zu haben.
Long-COVID-Symptome wenig spezifisch
Nach einer SARS-CoV-2-Infektion leiden einige Patienten unter langanhaltenden körperlichen Symptomen, die die Lebensqualität beeinträchtigen können. Zu diesen Long-COVID-Symptomen zählen beispielsweise Fatigue, Atembeschwerden und Konzentrationsschwierigkeiten.
Diese Symptome sind relativ unspezifisch und möglicherweise nicht immer auf eine vorangegangene SARS-CoV-2-Infektion zurückzuführen. Französische Wissenschaftler haben nun untersucht, ob bereits die Vermutung, eine COVID-19-Erkrankung durchgemacht zu haben, zu diesen Symptomen führen kann. Dazu wurden Menschen untersucht, die berichteten, an COVID-19 erkrankt gewesen zu sein.
Studie zu vermuteten SARS-CoV-2-Infektionen
26.823 Personen wurden auf Anti-SARS-CoV-2-Antikörper getestet, die auf eine vorangegangene Infektion hinweisen. Zusätzlich mussten sie Fragebögen zu einer möglichen vorherigen COVID-19-Erkrankung, Diagnose und Symptomen beantworten (Beispiele):
- Glauben Sie, mit SARS-CoV-2 infiziert gewesen zu sein? Und wenn ja, wurde dieser Verdacht serologisch bestätigt?
- Litten Sie an Symptomen wie Husten, Muskel- und Gelenkschmerzen, Fatigue, Geschmacksverlust oder Schlafproblemen, die Sie vorher nicht hatten? (18 verschiedene Symptome flossen in die Bewertung ein)
- Wie lange haben diese Symptome angehalten?
- Glauben Sie, dass die SARS-CoV-2-Infektion diese Symptome ausgelöst hat?
Vermutete Infektion kann Symptome auslösen
1091 hatten einen positiven Antikörper-Test, 453 (41,5%) davon hatten auch vor dem Test geglaubt, infiziert gewesen zu sein. Bei 914 Teilnehmern, die vermuteten, eine SARS-CoV-2-Infektion durchgemacht zu haben, bestätigte der Antikörper-Test diesen Verdacht nur bei knapp der Hälfte (49,6%).
Vor Adjustierung war bei 15 der 18 abgefragten langanhaltenden Symptome ein Zusammenhang mit dem Glauben an eine vorangegangene Infektion zu sehen. Bei den labordiagnostisch bestätigten Infektionen gab es nur eine Assoziation mit 10 von 18 Symptomen.
Auch nach Adjustierung war die Überzeugung, eine Infektion durchgemacht zu haben, stärker mit den langanhaltenden Symptomen verknüpft (16 von 18 Symptomen; Odds-Ratios von 1,39 bis 16,37) als eine bestätigte Infektion. Lediglich der Geschmacksverlust wurde bei tatsächlich durchgemachter Infektion häufiger als bei vermuteter Infektion mit der Erkrankung im Zusammenhang gesehen.
Wie kommt dieser Zusammenhang zustande?
Die Autoren vermuten mehrere Mechanismen hinter diesen Ergebnissen. Die wachsende Sorge vor Long-COVID könnte dazu führen, dass Menschen mit passenden langanhaltenden körperlichen Symptomen davon ausgehen, sie hätten COVID-19 gehabt. Außerdem könnte die Vermutung, COVID-19 gehabt zu haben, die Wahrnehmung solcher Symptome verstärken oder diese Symptome indirekt auslösen, beispielsweise durch dadurch bedingte körperliche Inaktivität oder anders geartete Ernährung.
Die Autoren resümieren, dass langanhaltende körperliche Symptome 10 bis 12 Monate nach der ersten Pandemie-Welle mehr mit der Vermutung, infiziert gewesen zu sein, assoziiert waren als mit einer labordiagnostisch bestätigten Infektion.
Long-COVID-Symptome müssen nicht Long-COVID sein
Die Autoren ziehen aus diesen Ergebnissen zwei Schlüsse: Zum einen sollte untersucht werden, ob die Mechanismen, die zu Long-COVID führen, wirklich spezifisch für SARS-CoV-2 sind. Zum anderen sollten Menschen mit entsprechenden Symptomen gründlich untersucht werden, damit diese Symptome, die auch von zahlreichen anderen Erkrankungen herrühren können, nicht fälschlicherweise einer COVID-19-Erkrankung zugeordnet werden.
Kommentar
Derzeit ist COVID-19 natürlich ein drängendes Problem, aber andere Erkrankungen sind dadurch nicht verschwunden. Es wäre fatal, wenn alle Menschen mit diesen derartig unspezifischen Symptomen verstärkt Long-COVID-Diagnosen erhalten – gegebenenfalls, weil sie selbst schon diesen Verdacht äußern – obwohl eine andere schwere Grunderkrankung vorliegt, die behandlungsbedürftig ist.
Dieses Risiko besteht jedoch. Es ist bekannt, dass kognitive Fehler bei klinischen Diagnosen und Entscheidungen eine Rolle spielen. Dazu zählen beispielsweise
- Verfügbarkeitsfehler (Corona ist omnipräsent, was als erstes in den Sinn kommt, wird diagnostiziert),
- Verankerungsfehler (an der ursprünglichen Diagnose festhalten, z.B. Symptome passen zu Long-COVID, es wird nicht weitergesucht) oder
- Bestätigungsfehler (bei Verdacht auf Long-COVID werden alle Untersuchungen und Ergebnisse so ermittelt und ausgewertet, dass diese die Vermutung bestätigen).
Wie Fallberichte zeigen, tritt dieses Problem auch bei der Infektion an sich und nicht erst bei Long-COVID auf und andere Erkrankungen werden (zunächst) übersehen. Solche Berichte und die Ergebnisse der vorliegenden Studie sind wichtig – nicht um COVID-19 herunterzuspielen, sondern um daran zu erinnern, dass andere Erkrankungen ebenfalls relevant sind.
Quelle
Matta J, et al. Association of Self-reported COVID-19 Infection and SARS-CoV-2 Serology Test Results With Persistent Physical Symptoms Among French Adults During the COVID-19 Pandemic. JAMA Intern Med 2021; Nov 8;e216454. doi:10.1001/jamainternmed.2021.6454.