Die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) ist ein wichtiger Marker zur Beurteilung der Nierenfunktionsleistung. Da sie mit dem Alter naturgemäß nachlässt, sind niedrige Werte bei Senioren anders zu bewerten.
Mit starrer Grenze mehr Diagnosen
Ein eGFR-Wert unter 60 ml/min/1,73m2 ist normalerweise ein Alarmsignal und dient oftmals als Auslöser zur Diagnose einer chronischen Niereninsuffizienz. Darüber hinaus gilt eine niedrige eGFR als Risikofaktor für akutes Organversagen bzw. ein erhöhtes Sterberisiko. Für Menschen im mittleren Alter dürfte diese Einschätzung zutreffen, bei Älteren ist Flexibilität bei der medizinischen Beurteilung geboten. Zu diesem Schluss kommen Ärzte in Kanada, die Daten von 127.132 Patienten mit der Diagnose chronische Niereninsuffizienz auswerteten. Diese Diagnosen beruhten auf eben diesem eGFR-Wert von < 60. In einem zweiten Szenario bewerteten die Mediziner die Werte altersabhängig, sodass der Schwellenwert mit zunehmendem Alter sank: Bis 40 Jahren lag er bei < 75, bei 40 bis 64 Jahren bei < 60, für 65 Jahre und älter bei < 45. Unter Anwendung dieser adaptierten Einteilung traf die Diagnose nur noch bei 81.209 Patienten zu. Auch neue Insuffizienzen traten mit 343 versus 537 Fällen pro 100.000 Personenjahren seltener auf.
Zwischen 45 und 59 kein erhöhtes Risiko
Um die Aussagekraft der verschiedenen Diagnosestellungen zu beurteilen, verglichen die Autoren die Häufigkeit von Nierenversagen und frühzeitigem Tod nach fünf Jahren in beiden Gruppen. Demnach lag die Wahrscheinlichkeit für ein Organversagen bei 1,67% unter dem starren, und bei 3,01% unter dem altersadaptierten Schwellenwert. Das Sterberisiko nach fünf Jahren lag bei der flexiblen Einteilung mit 25,4% zu 21,9% ebenfalls nur geringfügig höher. Interessantes Ergebnis der Analyse war, dass ein Organversagen für Personen über 65 Jahren mit einer eGFR zwischen 45 und 59 ähnlich wahrscheinlich war wie für Menschen mit völlig unauffälligem eGFR-Wert. Erst ein Wert unter 45 war verknüpft mit einem erhöhten Risiko für Organversagen, allerdings in sämtlichen Altersgruppen.
Nicht als alleinigen Hinweis nutzen
Die Analyse zeigt, dass der fixe eGFR-Schwellenwert von < 60 das Risiko für Überdiagnosen birgt. Eine altersadaptierte Grenze dagegen führt zu deutlich weniger diagnostizierten Fällen von chronischer Niereninsuffizienz und erreicht eine vergleichbare Risikoabschätzung. Dementsprechend sollte die eGFR bei älteren Menschen nicht als einziges Kriterium zur Diagnose herangezogen werden. Weitere Hinweise auf eine tatsächliche Funktionseinschränkung der Nieren geben erhöhte Konzentrationen von Kreatinin und Harnstoff, eine verringerte Kreatinin-Clearance sowie eine Albuminurie.
Quelle
Liu P et al. Accounting for age in the definition of chronic kidney disease. JAMA Intern Med 2021; https://doi.org/10.1001/jamainternmed.2021.4813.