Die gestiegene Inanspruchnahme von psychiatrischen Therapien bei Kindern in den USA ist Anlass zur Sorge, ob die Verordnungen wirklich adäquat sind. Vor allem die steigenden Verordnungszahlen von Antipsychotika zum Management von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern stimmen die Autoren einer amerikanischen Studie skeptisch.
Verordnungssituation
Viele Psychopharmaka sind weder für die Behandlung von Kindern zugelassen – der Einsatz erfolgt off label – noch besteht eine befriedigende Datenlage zu Nutzen-Risiko-Verhältnissen und zu (Langzeit-)Effekten.
Besonders besorgniserregend sei außerdem aus sozialer und ethischer Sicht, dass die Verordnungszahlen besonders hoch bei Kindern aus sozial schwachen Verhältnissen sind. Die Studie sollte daher aufdecken, wie viele Psychopharmaka Kindern verordnet werden, welche Diagnosen zugrundeliegen und wie lange die Medikamente dann verabreicht werden.
Studiendaten
Ausgewertet wurden Medicaid-Daten von Kindern von der Geburt bis zum Alter von 8 Jahren.
Medicaid ist ein Programm zur Finanzierung der medizinischen Versorgung von Personen mit geringem Einkommen, Kindern, Schwangeren, älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen in den USA. Finanziert wird es vom Staat.
Von 35.244 Kindern hatten 4550 bis zu ihrem achten Geburtstag eine psychiatrische Diagnose erhalten. Dazu gehörten ADHS, störendes Verhalten, Lernbehinderung, Anpassungsstörung, Angststörung, Depression, Autismus-Spektrum-Störung und andere Diagnosen (z.B. Bipolar-Störung, Schizophrenie). Die verordneten Medikamente wurden sechs Klassen zugeordnet: Stimulanzien, α-Agonisten, Antidepressiva, Antipsychotika, Anxiolytika, Hypnotika und andere (z.B. Atomoxetin).
Psychiatrische Diagnosen bei Kindern
Die häufigsten Diagnosen waren ADHS und Lernbehinderungen (1999 bzw. 1438 von 4550). ADHS wurde häufiger bei Jungen diagnostiziert, Anpassungs- und Angststörungen kamen bei Mädchen öfter vor.
Lernbehinderungen wurden bei über 80 % der Diagnosen bis zum 3. Geburtstag gestellt – laut Autoren vorteilhaft, da ein frühes Eingreifen, beispielsweise in Form von speziellen Förderprogrammen beim Lernen oder Sprachtherapien, langfristig für bessere Erfolge sorgt. Allerdings hatten weniger als 20 % der betroffenen Kinder solche Therapien erhalten – ein wichtiger Ansatzpunkt, finden die Studienautoren. Nichtmedikamentöse Maßnahmen müssten stärker bekannt gemacht werden und Eltern und Erzieher besser auf die Bedeutung dieser Möglichkeiten hingewiesen werden.
Medikamente für über 2000 Kinder
Insgesamt 2196 Kinder erhielten psychotrope Medikamente, die Hälfte davon für mehr als 200 Tage in den 8 Beobachtungsjahren. 20 % erhielten sogar mehr als ein Präparat über mehr als sechzig Tage.
Jungen bekamen mehr Stimulanzien als Mädchen, diese nahmen wiederum öfter Anxiolytika und Hypnotika als die Jungen. Insgesamt waren Stimulanzien die am häufigsten eingesetzten Arzneimittel (1645 Kinder). Kritisch bewerten die Autoren den Einsatz der Antipsychotika in der untersuchten Population. Diese sollten bei Bipolar-Störung, Schizophrenie und manchen Autismus-Spektrums-Störungen eingesetzt werden. Allerdings hatten nur 15 % der mit Antipsychotika behandelten Kinder eine der genannten Krankheiten. Die Autoren stellen daher in den Raum, dass diese in erster Linie genutzt werden, um verhaltensauffällige Kinder in den Griff zu bekommen. Eine sehr sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung sei hier also vonnöten.
Die Daten lassen jedoch keine Aussage zu, wie sich die Situation bei sozial besser gestellten Kindern darstellt. Zudem wurden die Daten über Verordnungen ausgewertet – was schließlich wirklich genommen wurde wie verordnet, ist nicht nachvollziehbar.
Lieber keine Psychopharmaka für Kinder?
Es gibt sicher Kinder, die von einer Medikamenteneinnahme profitieren. Keinesfalls darf jedoch ein Arzneimittel verwendet werden, ohne dass das Kind dadurch einen Vorteil hat – nur weil es für das Umfeld die bequemste Lösung ist.
Vor allem, weil die Datenlage dünn ist und über Langzeiteffekte wenig bekannt ist, sollten Diagnosen und Arzneimittelgaben regelmäßig überprüft werden, um eine unnötige oder sogar schädliche Therapie zu vermeiden.
Auch in Deutschland sind in den letzten Jahren vermehrt Kindern und Jugendlichen Psychopharmaka verordnet worden, allerdings scheinen hier in erster Linie häufigere Folgetherapien und nicht eine überhöhte Zahl an Neudiagnosen verantwortlich zu sein.