Patienten dürfen üblicherweise sechs Stunden vor einer Operation nichts essen. Oft werden sie auch angehalten, in diesem Zeitraum nichts zu trinken. Eine niederländische Studie zeigt nun, dass diese Anweisung unnötig ist und dass ein wesentlich kürzerer Flüssigkeitsverzicht ausreicht.
Ziel: Aspirationen verhindern
Vor einer Operation werden Patienten angehalten, auf Nahrung und Flüssigkeiten zu verzichten. Konkret bedeutet dies eine sechsstündige Nahrungskarenz, bevor die Narkose eingeleitet wird. Klare Flüssigkeiten, die kein Fett, keine Partikel und keinen Alkohol enthalten, dürfen die Patienten bis zwei Stunden vor Anästhesiebeginn zu sich nehmen (PDF).
So soll eine Aspiration verhindert werden. Insgesamt kommt eine perioperative Aspiration selten vor – die Inzidenz liegt zwischen 1 und 10 pro 10.000 elektiven Eingriffen – und ist oft nicht der Nahrungs- bzw. Flüssigkeitsaufnahme geschuldet, sondern ist eher auf mangelnde Narkosetiefe oder unzureichende Atemwegsprotektion zurückzuführen.
Bei Kindern verkürzter Flüssigkeitsverzicht möglich
Einige neuere Studien – vorrangig mit Kindern – haben überdies gezeigt, dass die Zeit, in der Patienten keine Flüssigkeiten zu sich nehmen dürfen, deutlich verkürzt werden kann, ohne dass das Aspirationsrisiko steigt. Gleichzeitig verbessert sich dadurch aber das Wohlbefinden der Patienten und postoperativ traten seltener Übelkeit und Erbrechen auf. Europäische pädiatrische Leitlinien wurden dementsprechend bereits angepasst. Es gilt das „6-4-3-1-Schema“:
- 6 Stunden Karenz für feste Nahrung
- 4 Stunden Karenz für Milch/Fertigmilch und kleine Mahlzeiten (z. B. Toast mit Marmelade, Joghurt, Smoothie)
- 3 Stunden Karenz für Muttermilch (auch angereicherte Muttermilch)
- 1 Stunde Karenz für klare Flüssigkeiten (Wasser mit und ohne Zucker, Tee, Säfte ohne Fruchtfleisch)
Da die Magenentleerung von Erwachsenen mit der von Kindern vergleichbar ist, lässt sich annehmen, dass auch bei ihnen eine lange Flüssigkeitskarenz nicht notwendig ist. Eine entsprechende Evidenz fehlt jedoch noch. Eine niederländische Studie sollte diese Lücke schließen.
Gelockerte Karenzbestimmungen fördern Wohlbefinden
In die prospektive Beobachtungsstudie wurden 76.451 Erwachsene mit geplanten Operationen unter Narkose einbezogen. Im Klinikum wurden schrittweise großzügigere Karenzbestimmungen für die Flüssigkeitsaufnahme eingeführt, die Nahrungskarenz blieb unverändert. 59.036 Patienten (78 %) unterlagen dem Standardprotokoll, 16.815 (22 %) dem weniger strengen Protokoll.
Primärer Endpunkt war die Änderung der Karenzzeit hinsichtlich der Flüssigkeitsaufnahme. Darüber hinaus wurden das Wohlbefinden der Patienten (gemessen als Durst vor der Operation), aufgenommene Flüssigkeitsmenge, Übelkeit und Erbrechen sowie die Gabe von Antiemetika untersucht. Als Sicherheitsparameter dienten Regurgitation und Aspiration.
Unter dem großzügigeren Protokoll sank die Karenzzeit vor der Narkose um 3 Stunden und 7 Minuten auf eine mediane Dauer von einer Stunde und 20 Minuten. Die untersuchten Parameter für das Wohlbefinden der Patienten verbesserten sich unter der verkürzten Karenzzeit: Die Patienten litten weniger unter Durstgefühl (37 % vs. 46 %) sowie seltener unter Übelkeit und Erbrechen nach der Operation (10,6 % vs. 9,4 %). Letzteres ging auch mit einem reduzierten Antiemetika-Gebrauch einher. Regurgitation und Aspiration stiegen dagegen auf insgesamt niedrigem Niveau.
Leicht erhöhtes Aspirationsrisiko akzeptabel
Durch das Studiendesign und weil die Studie hinsichtlich Beurteilung der Risiken nicht ausreichend gepowert war, kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Risiko für Regurgitation und Aspiration unter dem weniger strengen Protokoll relevant erhöht ist. Allerdings halten die Autoren die leicht erhöhten, aber insgesamt niedrigen Raten im klinischen Alltag für akzeptabel. Diese seien durch sorgfältiges Monitoring händelbar. Zudem sei jeder Fall von Regurgitation als Outcome-Parameter erfasst worden, während Regurgitation ohne Aspiration oft als unproblematisch eingestuft werde.
Insgesamt habe sich das neue Protokoll hinsichtlich des Patientenbefindens bewährt und die Daten legen außerdem nahe, dass geplante Operationen nicht verschoben werden müssen, sollten die Patienten doch kurz vorher noch etwas getrunken haben.
Quelle
Marsman M, et al. Association of a Liberal Fasting Policy of Clear Fluids Before Surgery With Fasting Duration and PatientWell-being and Safety. JAMA Surg 2023, Published online. doi:10.1001/jamasurg.2022.5867.