Pseudo-Tourette – alles nur Fake?

Das Tourette-Syndrom geht viral – Youtube und TikTok sei Dank. Aber was genau ist Pseudo-Tourette überhaupt? Und wie kann ein Social-Media-induziertes Tic-ähnliches Verhalten von einem Tourette-Syndrom unterschieden werden?

Hype im Netz

Die Klickzahlen sprechen für sich: Allein in Deutschland haben mehr als zwei Millionen Menschen den Kanal „Gewitter im Kopf – Leben mit Tourette“ abonniert. Sie konsumieren Videos, in denen die Schauspieler das Tourette-Syndrom (TS) imitieren. Das Problematische daran: Immer mehr junge Menschen zeigen nach dem Konsum solcher Videos ein Tic-ähnliches Verhalten.

Tourette hat viele Gesichter

Rund 1 % der Gesamtbevölkerung ist von der neuropsychiatrischen Erkrankung betroffen, die vorzugsweise bereits im Kindes- und Jugendalter auftritt. Das ist nicht gerade selten. Die Ursachen sind bislang nur wenig erforscht, maßgeblich ist jedoch eine genetische Prädisposition. Bei einem betroffenen Elternteil steigt das Risiko für das Kind selbst an TS zu erkranken um das zehn- bis einhundertfache verglichen mit Kindern ohne vorbelastete Familienmitglieder! Das Vorhandensein zusätzlicher exogener Faktoren wie Hypoxie in der Gravidität oder Infektionen mit Gruppe-A-Streptokokken führt letztendlich zum Ausbruch der Krankheit. Jungen sind dabei viermal häufiger betroffen als Mädchen.

Typisch sind motorische und vokale Tics, die unwillentlich und zusammenhanglos auftreten. Die Ausführung verschafft Betroffenen Erleichterung. Oft gibt es keinen kausalen Zusammenhang und selten ist das Auftreten auf konkrete Ereignisse zurückzuführen. Auch die Variabilität der Art, Intensität und Dauer der Symptome ist hoch: Sie können temporär auftreten oder lebenslang persistieren. Repetitive Bewegungen, Wortäußerungen oder Laute prägen den Alltag von Betroffenen gleichermaßen wie Angst vor Stigmatisierung, Mobbing, Schamgefühle und ein hoher psychischer Leidensdruck.

Dopamin im Fokus der Forschung

Als Ursache für die Entstehung wird auch ein gestörter Neurotransmitter-Stoffwechsel im Gehirn diskutiert, insbesondere von Dopamin. Bemerkenswert ist nämlich, dass die Zahl der Dopamin-Rezeptoren im Gehirn von Patienten mit TS erhöht ist. Aber auch andere Neurotransmitter wie Serotonin und Noradrenalin sind betroffen. Folglich manifestieren sich neurologische Störungen primär in den Basalganglien, die für die Impulskontrolle verantwortlich sind.

Tics und TikTok

Das pandemische Tic-ähnliche Verhalten (TLB-SM, tic-like behavior durch social media) tritt in letzter Zeit gehäuft auf. Auffallend nach dem Erfolg von „Gewitter im Kopf – Leben mit Tourette“ war für Paulus und ihre Forschungsgruppe eine Zunahme von TLB-SM-Patienten, die in der Tourette-Ambulanz des Instituts für Systemische Motorikforschung in Lübeck vorstellig wurden. Diese hatten die Videos von angeblich am TS erkrankten Darstellern gesehen und zeigten wie diese eine ähnlich komplexe und für Tourette untypische Tic-Symptomatik.

In der von Paulus durchgeführten Studie verglichen sie 13 Pseudo-Tourette-Patienten mit jeweils 13 gleichaltrigen Personen, die die Diagnose in der Vergangenheit erhalten hatten. Die Ergebnisse zeigen, dass TLB-SM sehr einfach von einem tatsächlichen TS differenzierbar ist:

  • plötzliches Auftreten (TLB-SM) vs. schleichender Beginn (TS)
  • komplexe, Extremitäten-betonte Tics im Beisein anderer Menschen (TLB-SM) vs. überwiegend vokale Tics ohne Präferenz für bestimmte Körperteile außerhalb großer Menschenmengen (TS)
  • sehr hoher (TLB-SM) vs. geringer (TS) Variationsgrad der Tics

(K)eine Comedyshow

Natürlich wird Unterhaltung im Internet groß geschrieben. Da die Schauspieler – im wahrsten Sinne des Wortes – in den genannten Videos häufig keine typischen Symptome eines TS zeigten, mutet so manches Video wie eine Comedyshow an. Allerdings ist diese Erkrankung alles andere als lustig für Betroffene. Dennoch hat TLB-SM die Jugend offensichtlich infiziert und animiert sie lauffeuerartig dazu, eigene Tics in selbstproduzierten Videos zu präsentieren.

Außer Frage steht, dass es sich um ein neues sozial bedingtes Phänomen handelt. Inwiefern die Imitation solcher Tics im Internet angebracht ist und ob damit eine Sensibilisierung der Erkrankung erreicht wird, steht auf einem völlig anderen Blatt geschrieben. Angemessen und wünschenswert wäre jedenfalls das Entgegenbringen von (mehr) Verständnis für das Verhalten TS-Betroffener.

Quellen