In ihrer aktuellen „Unstatistik des Monats“ beschäftigen sich Gerd Gigerenzer und Kollegen mit der Wirksamkeit der sogenannten Booster-COVID-19-Impfung und der wie immer interessanten Interpretation der Studienergebnisse in den sozialen Medien.
Relatives versus absolutes Risiko
Im September 2021 wurde im Fachjournal „New England Journal of Medicine“ eine Studie zur Wirksamkeit der Booster-Impfung mit dem mRNA-Impfstoff Comirnaty® veröffentlicht und im Anschluss in den sozialen Medien viel diskutiert.
Karl Lauterbach schrieb auf seinem Facebook-Account von einem „mehr als 10-fachen Schutz gegen Infektion oder schwere Krankheit“. Das Team der RWI (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, vormals Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung) betont nun in ihrer „Unstatistik des Monats“ , hier könne der Eindruck entstehen, dass „der zusätzliche Schutz der dritten Impfung ein Zehnfaches des schon bestehenden Schutzes sei“. Hier liege jedoch „ein Klassiker der Fehlinterpretation von relativen Risiken vor“.
In der Studie heißt es, dass sich das relative Risiko, sich zu infizieren (gemessen in Fällen pro Personentagen unter Risiko) um ca. den Faktor 11 und das relative Risiko, schwer zu erkranken, um den Faktor 20 verringert habe. Eine Senkung des relativen Risikos sei jedoch nicht gleichzusetzen mit einer gleich hohen Erhöhung des Impfschutzes.
Zur Veranschaulichung rechnen die Autoren der Unstatistik am RWI Essen die Zahlen folgendermaßen zusammen:
- Mit zwei Impfdosen lag das Risiko einer Infektion bei ca. 85 Fälle/100.000 Personentage, mit drei Impfdosen bei ca. 8 Fälle/100.000 Personentage.
- Mit zwei Impfdosen lag das Risiko einer schweren Erkrankung bei ca. 6 Fälle/100.000 Personentagen, mit drei Impfdosen bei ca. 0,3 Fälle/100.000 Personentage.
Personentage sind nicht gleich Personen und auch nicht Personen unter Risiko. Zum Vergleich haben die Autoren jeweils 10.000 Personen über den Studienzeitraum von 30 Tagen für ihre Berechnungen herangezogen, was 300.000 Personentagen entspricht:
- Mit zwei Impfdosen erwartet man 255 Infektionen, mit drei Dosen 24 Infektionen.
- Mit zwei Impfdosen erwartet man 18 schwere Fälle, mit drei Dosen 2 schwere Fälle.
Die Wahrscheinlichkeit, sich nicht zu infizieren, steigt demnach mit der dritten Dosis von 9745/10.000 auf 9976/10.000 – eine Erhöhung des Schutzes um etwas mehr als 2 Prozentpunkte.
Die Wahrscheinlichkeit, nicht schwer zu erkranken, steigt mit der dritten Dosis von 9982/10.000 auf 9998/10.000 – entsprechend einer Erhöhung des Schutzes um knapp 0,2 Prozentpunkte.
Gigerenzer und Kollegen monieren, dass bereits in der Zusammenfassung der Originalstudie keine absoluten, sondern nur relative Zahlen zum Effekt der dritten Impfung genannt werden, obwohl die CONSORT-Regeln das fordern:
„Relative Zahlen sind beeindruckend groß, während die absoluten Zahlen klar zeigen, dass eine dritte Impfung die bereits beachtlich hohe Wirkung der ersten beiden Impfungen noch etwas verstärkt, aber dieser zusätzliche Effekt ist nicht so groß ist wie es die relativen Zahlen erscheinen lassen.“
Unstatistik des Monats
Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat jüngst publizierte Zahlen und deren Interpretationen.
Quelle
Unstatistik des Monats vom 30. September 2021, https://www.rwi-essen.de/unstatistik/119/