Über 100 Lungenärzte gegen aktuelle Feinstaubgrenzwerte

Auf den ersten Blick erscheint es sehr befremdlich, wenn gerade Ärzte gegen Grenzwerte bei der Luftverschmutzung wettern. Wir haben die Hintergründe und Standpunkte zusammengefasst.

Professor Dieter Köhler, ehemaliger Präsident der DGP (Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin), kritisiert in einem Rundbrief an seine Kollegen (pdf) die Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide. Er bezweifelt die wissenschaftliche Basis der Richtwerte, die zur Festsetzung der Grenzwerte dienten. Über 100 Ärzte haben seine Stellungnahme (pdf) unterschrieben.

Was kritisiert Köhler?

  • Korrelation und Kausalität. Die Gefährdung durch Luftverschmutzung wurde vor allem durch epidemiologische Daten abgeschätzt. Statistisch besteht ein Zusammenhang zwischen Feinstaub, NOx-Belastung und Mortalität (= Korrelation). Köhler bezweifelt jedoch, dass die erhöhte Zahl von Todesfällen eine Folge dieser Luftverschmutzung ist (= Kausalität).
  • Störfaktoren. Die Lebensart der Regionen mit unterschiedlicher Luftverschmutzung variiert erheblich. Das beeinflusst viele Faktoren, die aus Köhlers Sicht statistisch nur schwer erfasst und ausgeglichen werden können.
  • Schwellenwert und Toxizitätsmuster. Aktuell geht man davon aus, dass es keine untere Grenze für gesundheitliche Schädigung durch Luftverschmutzung gibt. Auch diese Annahme hält Köhler für ein Artefakt des Studiendesigns und kritisiert, dass es keine pathophysiologische Hypothese gebe, wie die Luftverschmutzung zur einer erhöhten Häufigkeit unterschiedlichster Erkrankungen führen soll.
  • Falsifikation. Im Vergleich mit Zigarettenrauch und seiner Behandlungserfahrung legt Köhler dar, dass die zahlreichen Todesopfer durch Feinstaub nicht plausibel seien und in der Praxis nicht vorkommen.

Was sagt die deutsche Fachgesellschaft dazu?

Ausgangspunkt für die Kritik Köhlers war ein Positionspapier der DGP zu Luftschadstoffen und Gesundheit (pdf). In dem Dokument werden die anhaltende gesundheitlichen Belastungen durch Luftverschmutzung thematisiert und Maßnahmen zur Schadstoffvermeidung gefordert. Obwohl die Meinung von Prof. Köhler also nicht der Position der DGP entspricht, begrüßt der aktuelle Präsident der DGP (Klaus Rabe) die Diskussion in einem Begleitschreiben (pdf) zu Köhlers Rundschreiben.

Was sagt die internationale Fachgesellschaft?

Das Forum of International Respiratory Societies (FIRS) hat sich öffentlich für die deutschen, europäischen sowie WHO-Grenzwerte und gegen die Stellungnahme der 100 Lungenärzte ausgesprochen.

Was sind die geltenden Grenzwerte?

Der EU-Grenzwert (Jahresmittelwert) für die Stickstoffdioxidkonzentration beträgt in der Außenluft 40 µg/m3 und entspricht damit den Empfehlungen der WHO. Der MAK-Wert (maximale Arbeitsplatz-Konzentration) ist wesentlich höher: 950 µg/m3. Allerdings bezieht sich dieser auf andere Personen und Zeitfenster: gesunde Arbeitnehmer mit einer maximale Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche, die unter besonderer medizinischer Betreuung stehen [Umwelt Bundesamt].

Diskussion

Aus diesen Quellen lassen sich die verschiedensten Schlüsse ziehen und an vielen Stellen wird über die Motivation für Köhlers Schreiben diskutiert. Für Verkehrsminister Andreas Scheuer ist Köhlers Kritik ein willkommener Rückenwind. Es werden sogar Vorwürfe laut, Köhler sei Meinungsmacher für die Autoindustrie.

Abonnenten der „Arzneimitteltherapie“ lesen meine Meinung im Editorial der Märzausgabe. Die Hefte werden auch auf dem Jahreskongress der DGP ausliegen.