Mehr Spiritualität für die Patientenversorgung!

Spielt Spiritualität für schwer erkrankte Patienten eine Rolle? Definitiv, so das Ergebnis einer aktuellen Studie. Findet sie einen Platz in der Betreuung? Eher nicht. Ein Aufruf für den Blick über den Tellerrand.

Viele Menschen, wenige Studien

Obwohl viele Menschen sich mit einer Glaubenstradition identifizieren und/oder religionsunabhängige Spiritualität beispielsweise durch Berufung, Familie oder Natur erfahren und für sich als wichtigen Lebensaspekt annehmen, findet das Thema im klinischen und pflegerischen Alltag eher wenig Raum. Auch Studien zu diesem Thema sind rar. Nun wurden in einem systematischen Review verfügbare Untersuchungen ausgewertet, die Spiritualität während schwerer Erkrankungen oder während der Sterbe- oder Palliativpflege berücksichtigten sowie Assoziationen von Spiritualität und Gesundheitsergebnissen beschrieben – darunter psychische Erkrankungen, Drogenkonsum, Suizidalität, Lebensqualität, Gesundheitsverhalten und Mortalität. Das Forschungsteam generierte daraus evidenzbasierte Implikationen für die mögliche Einbeziehung von Spiritualität in die Pflege und Gesundheitsversorgung.

Der Bedarf ist da

Der Expertenkonsens erbrachte acht schlüssige Aussagen zur Spiritualität bei schweren Erkrankungen:

  • Spiritualität ist für die meisten Patienten wichtig.
  • Spirituelle Bedürfnisse sind in diesem Umfeld üblich.
  • Spirituelle Betreuung wird häufig von Patienten mit schweren Erkrankungen gewünscht.
  • Spiritualität kann die medizinische Entscheidungsfindung bei schweren Erkrankungen beeinflussen.
  • Unadressierte spirituelle Bedürfnisse sind mit einer schlechteren Lebensqualität der Patienten verbunden.
  • Die Bereitstellung von spiritueller Betreuung in der medizinischen Versorgung von Patienten mit schweren Erkrankungen ist mit besseren End-of-Life-Ergebnissen für Patienten verbunden.

Aber:

  • Spirituelle Bedürfnisse werden in der medizinischen Versorgung selten angesprochen.
  • Spirituelle Betreuung ist in der medizinischen Versorgung selten.

Expertenkonsens fordert Seelsorge als Standard

Die Studienautoren sehen Spiritualität als Möglichkeit, die Lebensqualität von Patienten und ihren Familien zu verbessern sowie die medizinische Entscheidungsfindung zu beeinflussen, um die patientenzentrierte Versorgung voranzutreiben. Auf Basis der Studienergebnisse empfehlen die Experten

  • die routinemäßige Einbeziehung der Seelsorge in die medizinische Versorgung von Patienten mit schweren Erkrankungen,
  • die Einbeziehung der geistespflegerischen Ausbildung in die Ausbildung von Mitgliedern des interdisziplinären medizinischen Teams und
  • die Einbeziehung von Fachpersonal (z. B. Seelsorgern) in die Betreuung von Patienten mit schweren Erkrankungen.

Die Ergebnisse spiegeln sowohl den bestehenden Bedarf als auch die Seltenheit der spirituellen Betreuung von Patienten mit schweren Erkrankungen und zumindest teilweise die mangelnde Aufmerksamkeit in der Betreuung für die Spiritualität der Patienten wider, so ein Fazit der Studienautoren. Ihr Vorschlag: Ein Screening kann laut eines generalistisch-spezialisierten Modells für multidisziplinäre Pflege darin bestehen, in die Erstuntersuchungen eine kurze spirituelle Geschichte oder einfache geistesgeschichtliche Fragen wie „Sind Ihnen Spiritualität oder Glaube wichtig, wenn Sie über Ihre Gesundheit und Krankheit nachdenken?“ einzubauen.

Eine Pflege, die die individuellen Vorlieben, Bedürfnisse und Werte der Patienten respektiert und darauf reagiert und sicherstellt, dass die Patientenwerte alle klinischen Entscheidungen leiten.

Glaube als Gesundheitsfaktor

Darüber hinaus fanden die Forscher starke Evidenz für bestehende Zusammenhänge von Spiritualität und allgemeiner Gesundheit. Demnach sind häufige Besuche religiöser/spiritueller Zusammenkünfte verbunden mit:

  • einem geringeren Sterblichkeitsrisiko
  • weniger Rauchen und dem geringeren Konsum von Alkohol, Marihuana und anderen illegalen Drogen
  • einer besseren Lebensqualität
  • besseren Ergebnissen für die psychische Gesundheit
  • weniger Rauchen, riskantem Sexualverhalten und dem geringeren Konsum von Alkohol, Marihuana und anderen illegalen Drogen bei Jugendlichen
  • weniger depressiven Symptomen
  • weniger suizidalen Verhaltensweisen

Darüber hinaus besteht eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen häufiger Anwesenheit bei religiöser/spirituellen Zusammentreffen und einem geringerem Mortalitätsrisiko.

Nutzen von Gemeinschaften anerkennen

Im Hinblick auf den Einfluss von Spiritualität auf Gesundheitsergebnisse als Teil einer personenzentrierten, wertorientierten Versorgung ergaben sich für die Studienautoren ebenfalls drei Top-Empfehlungen:

  • Explizit evidenzbasierte schützende und nützliche Assoziationen der religiösen/spirituellen Gemeinschaftsbeteiligung als Teil der Bemühungen zur Verbesserung der patientenzentrierten Versorgung und der Gesundheit der Bevölkerung anzuerkennen und zu berücksichtigen,
  • Sensibilisierung von Angehörigen der Gesundheitsberufe und Studenten für die Evidenz in Bezug auf die schützenden und nützlichen Assoziationen der Teilnahme religiöser / spiritueller Gemeinschaften und
  • Spiritualität als sozialen Faktor im Zusammenhang mit Gesundheit in Forschung, Gemeinschaftsbewertungen und Programmumsetzung anerkennen.

Quelle

Balboni TA, VanderWeele TJ, Doan-Soares SD, et al. Spirituality in serious illness and health. JAMA 2022;328:184–197. doi:10.1001/jama.2022.11086